Digitale Tools ermöglichen Nichtregierungsorganisationen, ihre Projekte und Programme wirksamer und effizienter zu machen. Doch die Umsetzung stellt viele NRO vor Herausforderungen. Die Prinzipien für digitale Entwicklungszusammenarbeit bieten Orientierung und praktische Handlungsanleitungen, um digitale Projekte erfolgreich umzusetzen.
Längst ist die Verwendung digitaler Technologien in der Entwicklungszusammenarbeit keine Frage mehr des “ob”, sondern des “wie”. Mehr und mehr entwicklungspolitische Nichtregierungsorganisationen (NRO) suchen nach Möglichkeiten, die Ergebnisse und Wirksamkeit ihrer Projekte und Programme durch die Nutzung digitaler Tools zu verbessern. Ob im Gesundheitsbereich oder der Landwirtschaft, digitale Technologien ermöglichen es, effizienter und kostengünstiger zu arbeiten, Gemeinschaften weltweit zu vernetzen und insgesamt mehr Menschen zu erreichen – insbesondere unterversorgte Bevölkerungsgruppen beispielsweise in Konfliktregionen oder abgelegenen Orten. Zahlreiche gute Beispiele zeigen, welche Erfolge möglich sind – ob ZAULIMI, eine von der Agricultural Commodity Exchange for Africa und der Welthungerhilfe entwickelte App, die Kleinbäuer_innen mit Produkt- und Marketinginformationen unterstützt, TREEO, eine App für Transparenz und Minimierung von CO2-Emissionen in der Forstwirtschaft entwickelt von Fairventures oder eine von betterplacelab unterstützte Datenplattform für die Menschenrechtsarbeit mit LGBTIQ* in Uganda.
Doch bei der Durchführung von digitalbasierten Programmen befinden sich viele Entwicklungsorganisationen noch in der Testphase und stehen vor vielen Herausforderungen. Die Beobachtungen des letzten Jahrzehnts offenbarten, dass viele Programme scheiterten. Die Gründe dafür sind vielfältig. Viele verschiedene Akteur_innen arbeiteten unkoordiniert an der Entwicklung von digitalen Lösungen für dieselben Probleme, häufig in Silos ohne den potentiellen Nutzen für andere Sektoren in den Blick zu nehmen. Die sogenannte „Pilotitis“ verbreitete sich: viele Apps oder Plattformen wurden programmiert und getestet – aber nie über diese Phase hinaus genutzt. Die Förderung bzw. Finanzierung von digitalen Projekten ist häufig zu unflexibel, beispielsweise wenn im Verlauf des Projekts klar wird, dass nicht die geplante Technologie sinnvoll ist. Ebenso wurden viele Tools ohne die notwendige Partizipation der Nutzer_innen und anderer relevanter Stakeholder entwickelt, sodass die Projekte schließlich ins Leere liefen.
Neun Grundsätze sollen NRO die Anwendung erleichtern
Aus diesen Erkenntnissen entstanden – initiiert von verschiedenen internationalen Gebern und Organisationen – in einem partizipativen Prozess die sogenannten „Prinzipien für digitale Entwicklungszusammenarbeit“, die mittlerweile von zahlreichen NRO und Regierungsorganisationen unterstützt und angewendet werden. Die Grundsätze sind nicht starr und verbindlich, sondern eher als ein Satz von aktiven Leitlinien zu sehen, die den Praktiker_innen eine erfolgreiche Anwendung der Digitaltechnik bei Entwicklungsprogrammen erleichtern sollen. Sie leben davon, von einer aktiven Community im Laufe der Zeit angepasst und mit Erfahrungen und Good-Practice-Beispielen angereichert zu werden. Im Folgenden sollen die neun Prinzipien kurz vorstellen werden:
1. Gestalte mit den Nutzer_innen
Die nutzerorientierte Gestaltung bedeutet, Tools zu entwickeln, die die Bedürfnisse, Erwartungen und Verhaltensweisen der Nutzer_innen bestmöglich abbilden. Dies ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass Technologien inklusiv und wirkungsvoll sind und von der Zielgruppe genutzt werden. Es gilt also, von Beginn an die Nutzer_innen kennenzulernen und ihr Feedback einzuholen – sei es durch gemeinsame Workshops, Umfragen oder Gespräche. Idealerweise werden Nutzer_innen kontinuierlich und aktiv an der Planung, Gestaltung, Entwicklung und Testung des Tools beteiligt (die sogenannte Co-Creation).
2. Verstehe das bestehende Ökosystem
Ähnlich wie Kontextanalysen in allen entwicklungspolitischen Projekten lohnt sich zu Beginn eines digitalen Projekts der Blick auf den Kontext – das Ökosystem –, für den die digitale Lösung entwickelt wird. Dies ist nicht nur hilfreich, wenn eine neue Lösung entwickelt werden soll, sondern auch, wenn geplant ist, bestehende Technologien zu nutzen. Welche Tech-Unternehmen, Start-ups etc. gibt es bereits? Wie sieht die (digitale) Infrastruktur aus? Was sind die politischen Rahmenbedingungen? Wer sind relevante Akteur_innen? Welche Anwendungen und Plattformen werden bereits von den Menschen genutzt? Welche kulturellen Besonderheiten gibt es? Diese und weitere Fragen von Beginn an zu beantworten, hilft, Kooperationspartner zu identifizieren, auf die Bedürfnisse vor Ort besser einzugehen und Dopplungen bei Technologien zu vermeiden, wenn etwa ein entsprechendes Tool bereits existiert.
3. Bedenke die Skalierbarkeit
Skalierbarkeit – ein Wort, dass wir sonst eher aus der Business- und Start-up-Community kennen – wirft immer wieder Fragen auf. Hier geht es dabei nicht so sehr um das Erschließen von großen Märkten, als vielmehr darum, sicherzustellen, dass die Technologie über die Pilotphase und die initialen Nutzer_innen hinaus genutzt und verbreitet wird, bspw. in anderen Gemeinden, einer gesamten Region oder anderen Ländern. Somit geht es auch um den breiten und nachhaltigen Erfolg eines Tools, sodass es möglichst vielen Menschen zugutekommt. Dazu braucht es häufig entsprechende Finanzierungsstrategien oder Partner_innen, die mit der Initiative neue Gemeinden oder Regionen erschließen.
4. Beachte Nachhaltigkeit von Anfang an
Nachhaltigkeit ist eng verbunden mit Skalierbarkeit. Im Kern geht es darum, Programme, Plattformen und digitale Tools so aufzubauen, dass sie langfristig unterstützt und genutzt werden. In der Praxis lässt sich häufig beobachten, dass beispielsweise eine Plattform entwickelt wird, aber nicht geklärt ist, wie und von wem der weitere technische Support oder die Bereitstellung von Inhalten über die Projektlaufzeit hinaus gewährleistet wird. Dazu gehört, die Unterstützung durch Partner_innen oder andere Stakeholder sowie eine nachhaltige Finanzierungsstrategie jenseits der Projektförderung möglichst früh mitzudenken.
5. Sei datengetrieben
Wenn eine Initiative datengesteuert ist, können die richtigen Personen zur richtigen Zeit auf qualitative Daten zugreifen, um informierte Entscheidungen zu treffen. Während Daten heutzutage in den meisten Projekten der Entwicklungszusammenarbeit bereits eine Rolle spielen, sind sie bei Projekten mit digitalen Komponenten besonders relevant. Denn digitale Technologien sammeln potentiell eine unendliche Menge an Daten. Es ist wichtig, sich bereits am Anfang eines Projektes zu überlegen, welche Daten wie und von wem gesammelt und genutzt werden. Dazu gehört auch, wenn möglich auf bereits existierende Daten zurückzugreifen. Dieses Prinzip beinhaltet zum einen die Verpflichtung, die Qualität der Daten, die zur Entscheidungsfindung genutzt werden, sicherzustellen. Zum anderen beinhaltet es die Verpflichtung, einen verantwortungsvollen Umgang mit diesen Daten zu gewährleisten – insbesondere da in Projekten häufig sehr sensible persönliche Daten erhoben werden. Wichtige Fragen sind an dieser Stelle etwa: Bilden meine Daten die Lebensrealität der Betroffenen und Diversität ab? Werden sie inklusiv und partizipativ erhoben? Gibt es Daten, die (noch) nicht berücksichtigt sind, wie beispielsweise mündliche Erzählungen oder Erfahrungswissen?
6. Nutze Open Standards, Open Data, Open Source und Open Innovation
Offene Daten und offene Software helfen bei der Umsetzung von digitalen Projekten, da auf bestehendes Wissen und erprobte Lösungen zurückgegriffen werden kann und Doppelarbeit vermieden wird. Insgesamt trägt es zu einer verbesserten Zusammenarbeit, einem gemeinsamen Lernen und einer insgesamt größeren Wirksamkeit von digitalen Lösungen bei. NRO, die digitale Projekte umsetzen, sollten deshalb nach Möglichkeit eigene Daten und entwickelte Tools ebenfalls offen zur Verfügung stellen. Eine bekannte und häufig genutzte Plattform für Open Source Code ist GitHub.
7. Verwende Bestehendes und verbessere es
Eng verbunden mit der Nutzung und Bereitstellung von Open Data und Open Source ist das Prinzip der Wiederverwendung und Verbesserung. Man muss das Rad nicht neu erfinden – was in allen Bereichen gilt, ist besonders im Digitalen hilfreich. Digitale Lösungen – insbesondere Plattformen, bei denen es um Vernetzung geht – benötigen eine kritische Masse an Nutzer_innen, um Wirkung zu erzielen. Es lohnt sich daher, mit anderen zusammenzuarbeiten sowie bestehende Tools und Ansätze zu nutzen und diese weiterzuentwickeln, anstatt eine Vielzahl von Tools für dasselbe Problem zu haben. So können sich Communities bilden, in denen voneinander gelernt wird. In der Praxis kann das zum Beispiel bedeuten, eine bestehende Lernplattform gemeinsam zu nutzen, um neue Inhalte zu erweitern oder eine App modular zu entwickeln und die Bausteine anderen zur Verfügung zu stellen.
8. Beachte Datenschutz und Datensicherheit
Sehr eng verbunden mit dem Prinzip der „Datengetriebenheit“ besagt dieses Prinzip, Privatsphäre und Sicherheit von Beginn an zu gewährleisten, damit Daten nicht missbraucht werden oder in die falschen Hände gelangen. Dies ist besonders in Projekten der Entwicklungszusammenarbeit, in denen in der Regel marginalisierte und vulnerable Gruppen adressiert werden, essentiell. Das heißt, es muss sorgfältig geprüft werden, welche Daten erfasst und wie Daten bezogen, verwendet, gespeichert und gemeinsam genutzt werden – am besten bevor diese Daten überhaupt erhoben werden. Hilfreich ist auch eine Risiko-Nutzen-Analyse für die Datenerhebung, um so wenig Daten wie möglich und so viele wie nötig zu erheben. Das Thema Datenschutz und Sicherheit beschäftigt viele NRO. Gute Hinweise liefert neben den Ressourcen der Digital Principles unter anderem Oxfams „Reponsible Data Management training pack“.
9. Handle kooperativ
Kooperation und Kollaboration bedeutet, Informationen, Erkenntnisse, Strategien und Ressourcen über Projekte, Organisationen und Sektoren hinweg auszutauschen. Für Projekte mit digitalen Komponenten ist dies besonders wertvoll, da es nicht nur die Wirksamkeit und Effizienz der genutzten Technologien verbessern kann, sondern insbesondere deren Verbreitung und Langlebigkeit erhöht. So kann beispielsweise eine Partnerorganisation in der Entwicklung und Testung des Tools eingebunden sein und ein anderer Partner später den Betrieb übernehmen. Zusammenarbeit braucht Kapazitäten und Zeit, sodass es sich empfiehlt, diese bereits in der Planungsphase eines Projektes zu berücksichtigen.
Ausblick
Die hier vorgestellten Prinzipien können im gesamten Projektmanagementzyklus angewandt werden – von der Analyse und Planung über Entwicklung und Design bis zur Implementierung und insbesondere zur kontinuierlichen Reflektion im Rahmen des Monitoring. Nicht jedes Prinzip ist für jede Organisation und für jedes Projekt gleichermaßen relevant – manche Prinzipien werden eher abgehakt, andere müssen permanent reflektiert und intensiver bearbeitet werden. Viele NRO berichten beispielweise, dass der verantwortungsvolle Umgang mit Daten oder die nutzerorientierte Entwicklung für sie einen besonders hohen Stellenwert haben. Jedes Prinzip wird auf der Webseite der Digital Principles ausführlich erklärt und enthält hilfreiche Leitfäden und Tools wie Fragebögen oder Checklisten zur Anwendung. Für alle, die sich ausführlicher in ihrer Organisation damit beschäftigen möchten, gibt es beispielsweise Spiele für Workshops oder einen Onlineselbstlernkurs.
Umfangreiche weiterführende Informationen zum Thema bietet der NRO-Report Tech for Good: Möglichkeiten und Grenzen digitaler Instrumente in der Entwicklungszusammenarbeit von Nichtregierungsorganisationen, den VENRO im Jahr 2019 veröffentlicht hat.
Katharina Stahlecker ist Beraterin für Entwicklungszusammenarbeit und arbeitete zuvor als Referentin für VENRO.
Katharina Stahlecker | VENRO (bis März 2022) |