Die rasante Ausbreitung und Innovation digitaler Technologien weckt Hoffnungen auf eine bessere Welt und schürt gleichzeitig Ängste vor einem Kontrollverlust. Die Digitalisierung wird daher gerne in einem Atemzug mit der landwirtschaftlichen und der industriellen Revolution genannt. In der Tat haben Mobilfunk, Internet, Big Data und künstliche Intelligenz die Kraft, Gesellschaften zu verändern – zum Besseren wie zum Schlechteren. Im folgenden Beitrag möchte ich drei zentralen Fragen im Hinblick auf die zivilgesellschaftliche Entwicklungszusammenarbeit anreißen.
1. Welche Bedeutung hat Digitalisierung in der Entwicklungszusammenarbeit?
Mit dem NRO-Report Tech for Good möchten wir dieser Frage praxisnah nachgehen. Dabei konzentrieren wir uns auf die Nutzung digitaler Instrumente in der Arbeit von Nichtregierungsorganisationen (NRO). Längst ist die Verwendung digitaler Technologien in der Entwicklungszusammenarbeit keine Frage mehr des “ob”, sondern des “wie”. Der Einsatz für globale Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit ist seit jeher auf die Verbesserung von Lösungsansätzen angewiesen. Zu groß sind die Herausforderungen und zu ehrgeizig die Ziele (etwa die Agenda 2030), als dass sich NRO nicht regelmäßig nach Möglichkeiten zur Verbesserung ihrer Arbeit und zur Steigerung ihrer Wirksamkeit umschauen müssten. Eine bessere Internet- und Mobilfunkabdeckung, eine weltweit wachsende Zahl an Nutzer_innen und die zunehmende technische Expertise in Entwicklungsländern schaffen diese neuen Möglichkeiten. Bekanntestes Beispiel für eine bahnbrechende und armutsmindernde digitale Innovation dürfte das mobile Zahlungssystem M-Pesa aus Kenia sein.
Klar ist auch, dass die Digitalisierung nicht per se zu einer gerechteren Welt beiträgt. Daten sind in wenigen Jahren zu einem der wertvollsten Rohstoffe unserer Zeit geworden. Auf deren kommerzieller Verwertung wurden einige der mächtigsten Unternehmen der Welt aufgebaut. Die Rendite wird größtenteils in den USA abgeschöpft und landet (nahezu) steuerfrei auf gigantischen Offshore-Konten in der Karibik. Für entwicklungspolitische NRO ist es deshalb wichtiger geworden, sich auch Gedanken darüber zu machen, wie etwa digitaler Handel (mehr dazu in einem Blogbeitrag von Sven Hilbig von Brot für die Welt), Landwirtschaft (mehr dazu von Lena Bassermann von der Welthungerhilfe und von Marita Wiggerthale von Oxfam), Gesundheitssysteme, Teilhabemöglichkeiten oder die zunehmende Einschränkung digitaler Bürgerrechte (als Teil der Shrinking Spaces) die politische und wirtschaftliche Ordnung der Welt verändern, um im Sinne einer gerechteren und nachhaltigeren Entwicklung darauf reagieren zu können. Der NRO-Report liefert dafür im ersten und im letzten Kapitel einige Denkanstöße.
2. Wie können digitale Instrumente von NRO genutzt werden?
Wie unser Report zeigt, setzen viele NRO in enger Zusammenarbeit mit ihren Partnern zunächst einmal darauf, die Potenziale digitaler Technologien für die eigene Projektarbeit zu nutzen. Einige Beispiele im NRO-Report sind der Einsatz von online Mapping, webbasierte Traumatherapie, digitale Zertifizierungsverfahren in Lieferketten oder datenbankgestützte Registrierungssystemen in der Nothilfe. Gleichzeit versuchen NRO, jenen eine Stimme zu geben, die im Zuge des digitalen Wandels benachteiligt oder marginalisiert werden – beispielsweise, wenn etwa das Internet zensiert wird und soziale Medienkanäle die letzte Möglichkeit für eine unabhängige Berichterstattung bieten. Auch jenseits von Zensur zeigen sich deutliche Unterschiede in den Zugangs- und Teilhabemöglichkeiten im digitalen Raum. Diese sogenannten digitalen Gräben (digital divides) bestehen zwischen Nord und Süd, zwischen den Geschlechtern oder zwischen Stadt und Land, und sie gilt es zu überwinden
NRO können auch aufzeigen, welche digitale Lösungen sinnvoll sind und welche nicht. Denn nicht alles was technisch neu und aufregend ist, kann entwicklungspolitische Probleme lösen. Auch wenn “High-Tech”-Anwendungen wie Blockchain und 3D-Druck spannende neue Möglichkeiten eröffnen, sind mitunter “Low-Tech”-Lösungen wie SMS, die wirksameren Instrumente. Für den Erfolg sind weniger technische Leistungsfähigkeit als vielmehr eine durchdachte Kontextualisierung und lokales Wissen gefragt. Im NRO-Report widmen wir deshalb ein eigenes Kapitel einer Reihe von Low-Tech-, Medium-Tech- und High-Tech- Instrumenten.
3. Welche Auswirkungen hat Digitalisierung auf NRO?
NRO sind nicht nur Handelnde sondern auch Betroffene des digitalen Wandels. Unter anderem begünstigt Digitalisierung durch sinkende Kommunikationskosten eine Dezentralisierung der NRO-Arbeit. Die Analyse von Daten, die Steuerung von Prozessen und die Bereitstellung bestimmter Leistungen können über große Distanzen einfacher und schneller durchgeführt werden. Große Datenmengen können mitunter bei der Identifizierung erfolgsversprechender Lösungsansätze helfen. Gleichzeitig bedeutet Digitalisierung auch, dass NRO im Norden wie im Süden sich mehr Gedanken über Datenschutz und IT-Sicherheit machen müssen. Dafür brauchen sie Expertise, um mit den Veränderungen in ihrem Umfeld Schritt zu halten und die Möglichkeiten digitaler Technologien nutzen zu können, ohne dabei die Risiken aus den Augen zu verlieren. Als Orientierungshilfe haben wir die Auswirkungen des digitalen Wandels auf NRO in fünf Aspekte unterteilt:
1) Projekte:
Die Integration digitaler Technologien in Projekte hat das Potenzial, diese zu verbessern. Wenn digitale Komponenten ergänzt werden, kann die Effizienz, Nutzerfreundlichkeit, Sicherheit, Passgenauigkeit, Reichweite, Berichterstattung oder Transparenz erhöht werden. Die Analyse großer Datensätze erlaubt eine verbesserte Auswahl und Konzeption von Projekten.
2) Organisationsintern:
Der digitale Wandel erhöht den institutionellen Anpassungsdruck auf NRO. Passende Kapazitäten und Wissen müssen aufgebaut sowie Erfahrungen gesammelt und nutzbar gemacht werden. Die Leitungsebene der NRO steht vor der Herausforderung, begünstigende Rahmenbedingungen für Innovation und für die Skalierung von guten digitalen Ansätzen in ihren Organisationen zu schaffen. Dies kann auch eine institutionelle Verankerung des Themas innerhalb der Organisation notwendig machen, um gezielt Strategien zu erarbeiten und umzusetzen.
3) Veränderung der Tätigkeitsfelder:
Die Digitalisierung ist in ihrem Transformationscharakter mit der industriellen Revolution vergleichbar. Die Weltbank schätzt, dass bis zu zwei Drittel der heutigen Jobs in Entwicklungsländern durch Automatisierung ersetzt werden könnten. Gleichzeitig wird der breite Zugang zu Wissen und neuen Dienstleistungen erleichtert, und es entstehen neue Beschäftigungs- und Teilhabemöglichkeiten. Dies hat Auswirkungen auf die gesamte Arbeitswelt; dazu gehören klassische Bereiche der Entwicklungszusammenarbeit wie Bildung, Landwirtschaft oder das Gesundheitswesen. Es entstehen neue Arbeitsbereiche für NRO, so etwa im Bereich digitaler Bürgerrechte oder beim Zugang zu Informationstechnologien.
4) Rahmenbedingungen:
Für entwicklungspolitische NRO wächst die Erfordernis, sich für förderliche politische Bedingungen des Einsatzes digitaler Technologien zu engagieren. Denn zur Ausschöpfung digitaler Potenziale für entwicklungspolitische Vorhaben bedarf es der entsprechenden Rahmenbedingungen – sowohl in Deutschland (z. B. adäquate Förderinstrumente, Zugang zu Informationen) als auch in Ländern des globalen Südens (z. B. flächendeckende Infrastruktur, diskriminierungsfreie Zugänge, starke Partner).
5) Neue Akteure:
Bislang kaum beachtete Akteure gewinnen für die NRO-Arbeit an Relevanz. Daten, Infrastruktur und Wissen von Unternehmen wie Mobilfunkanbietern, Start-ups oder Social-Media-Plattformen werden für NRO interessanter. Dies ermöglicht den Aufbau neuer Verbindungen zwischen NRO, Unternehmen und Wissenschaft.
Weitere Informationen zum Thema Digitalisierung finden Sie im NRO-Report Tech for Good. Der Bericht bietet nicht nur eine Bestandsaufnahme spannender Digitalprojekte und aktueller Trends an der Schnittstelle zwischen Entwicklungszusammenarbeit / Humanitärer Hilfe und Digitalisierung. Der NRO-Report soll auch ein Auftakt sein für weiterführende Diskussionen im Verband über die Gestaltung der Digitalisierung durch NRO. Schreiben Sie uns gerne an, wenn Sie sich in diesen Prozess einbringen möchten.
Lukas Goltermann | VENRO |