Auf dem zweiten VENRO-Forum mit dem Titel „Weiter.denken. Perspektiven für die Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe“ am 8. Dezember 2020 nutzten wir die Jahresendstimmung als Verband, um innezuhalten und einen Blick nach vorne zu werfen. Wir nahmen uns einen Tag Zeit, um besser zu verstehen, was um uns herum passiert und welche Bedeutung Trends und Herausforderungen für unseren Sektor haben.
Dafür luden wir uns Expert_innen ein, die uns neue Blickwinkel zu ausgewählten Zukunftsthemen aufzeigten. Nach inspirierenden Inputs gab es Zeit und Raum, die Köpfe (virtuell) zusammenzustecken und die Trends miteinander zu diskutieren. Dieser Beitrag fasst die Ergebnisse der Diskussion zusammen.
1. Globale politische Trends
Megatrends in deren Kontext wir agieren müssen
Vortragende: Svea Koch, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Forschungsprogramm: Inter- und transnationale Zusammenarbeit, Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE)
In ihrem Vortrag wies uns Svea Koch vom DIE auf wesentliche Megatrends hin, die uns bereits beschäftigen, aber auch in Zukunft begleiten werden. Solche Megatrends seien Klimawandel und Ressourcenknappheit, demographischer Wandel, geopolitische Machtverschiebungen aber auch das Spannungsfeld von Globalisierung und Regionalisierung, Digitalisierung, Urbanisierung, zunehmende soziale Ungleichheit und Migrationsbewegungen. Dabei zeigte sie die Bedeutung der Interdependenzen von Megatrends auf: so könne beispielsweise Klimawandel die Landflucht verstärken, die Ausgestaltung der Urbanisierung wiederum ein Kernfaktor in der Bekämpfung des Klimawandels sein. Laut Koch müsse sich Politik daher auf die kausalen Zusammenhänge der Megatrends fokussieren. So könnten beispielsweise durch die Bekämpfung sozialer Ungleichheit auch Maßnahmen gegen das Klima einfacher und schneller gestaltet werden. Aktuell hinzu komme die Frage der Wirkmacht der COVID-19-Pandemie auf globale Ungleichheit. Das von Koch angeführte Szenario beruhe auf dem Projekt „Impact of COVID-19 on the Sustainable Development Goals” (Nachhaltige Entwicklungsziele, SDG) des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (United Nations Development Programme, UNDP) und gehe von einer pandemiebedingten erheblichen Zunahme extremer Armut aus. Investitionen in Sozialschutz-/ Wohlfahrtsprogramme, Governance, Digitalisierung und eine grüne Wirtschaft könnten den Anstieg extremer Armut allerdings verhindern. Dafür brauche es politikfeld-übergreifende Anstrengungen und Kooperationen (wie z.B. One Health) und ein Abrücken des Selbstverständnisses, Probleme nur im Globalen Süden zu bekämpfen und davon auszugehen, dass Mitgliedsländer der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) globale Herausforderungen besser meisterten.
Die Bedeutung des Multilateralismus für die Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe
Vortragender: Jens Martens, Geschäftsführer, Global Policy Forum
Europäische Antworten für gemeinsame Anstrengungen in der Bekämpfung globaler Ungleichheit mitzugestalten, liege auch in unserem zivilgesellschaftlichen Handlungsspielraum: Laut Jens Martens vom Global Policy Forum sollten sich deutsche Nichtregierungsorganisationen (NRO) daher für einen Multilateralismus einsetzen, der die Stärkung von Menschenrechts- und Nachhaltigkeitsnormen, die institutionelle Aufwertung der Vereinten Nationen sowie eine stärkere Beteiligung von Zivilgesellschaft, Parlamenten, Städten und Regionen umfasse. Besonders die zivilgesellschaftliche Beteiligung an multilateralen Prozessen könne über etablierte Zugangsformen (z.B. über eigene Regierungen und Konsultationsrechte bei den Vereinten Nationen) eingefordert werden. Die gegenwärtige Krise des Multilateralismus sei ein Spiegelbild der Krise der Demokratien und des nationalen Politikversagens, provoziere aber auch Gegenreaktionen (wie z.B. die Allianz für den Multilateralismus, mitinitiiert von Außenminister Heiko Maas), die zivilgesellschaftlich unterstützt werden können.
Wege hin zu einer sozial-ökologischen Transformation
Vortragende: Dr. Mandy Singer-Brodowski, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut Futur, Freie Universität Berlin
Schließlich stellte Dr. Mandy Singer-Brodowski vom Institut Futur der Freien Universität Berlin die Grundsatzfrage nach dem Ziel unseres Wirkens: wie gelangen wir zur oft heraufbeschwörten sozial-ökologischen Transformation und wie müssen sich Organisationen selbst verändern, um gesellschaftliche Transformation zu beeinflussen? Laut Singer-Brodowski bedeute sozial-ökologische Transformation die grundlegende Änderung von Strukturen und Institutionen der Gesellschaft durch Orientierung auf Zukunft. Dafür brauche es einen radikalen Pfadwechsel, der ein Zusammenwirken verschiedener Akteure, das Ausprobieren neuer Wege, aber auch die Abschaffung nicht-nachhaltiger Technologien und Praktiken erfordere. Zur Veranschaulichung, was das für die Wirkweisen von NRO bedeuten könne, führte Singer-Brodowski die Handreichung „Re.imagining Activism: A practical guide for the Great Transition“ vom Smart CSOs Lab an. Neben dem transformativen Wirken nach außen brauche man auch einen Wandel nach innen, so Singer-Brodowski. NRO müssten sich selbst bilden und ihre Fähigkeit zur eigenen Veränderung verbessern, um gesellschaftliche Transformationsprozesse wirkungsvoller zu beeinflussen. Dabei gehe es um implizite Praktiken (z.B. Arbeitskultur in der Organisation), die Ausrichtung der Organisation nach den großen Fragen (z.B. Nachhaltigkeit und Diversität), die Praxis der eigenen Organisationsmitglieder, die Lern- und Fehlerkultur sowie Glaubwürdigkeit, um Akzeptanz für die eigenen Werte nach außen zu bekommen. Für ein Praxisbeispiel, wie organisationaler Wandel gelingen könne, führte Singer-Brodowski das Experiment der Transformationswerkstatt „Öffentliche Verwaltung gestaltet Zukunft. Transformationen wagen“ an, welches Transformationstheorie mit transformativer Praxis verbindet.
2. NRO-spezifische Trends
Als NRO stehen wir nicht nur vor der Herausforderung, globale politische Prozesse im Blick zu haben und in unsere Arbeit einzubinden, sondern auch aktuellen Diskursen zu folgen und uns zeitgemäß auszurichten. Hierbei entstehen Fragen wie: Wie gestalten wir zukünftig die Zusammenarbeit mit Süd-Partner_innen? Können wir die entwicklungspolitische In- und Auslandsarbeit besser miteinander verbinden? Was bedeuten Postkolonialismus und Post-Development in der praktischen Umsetzung? Diesen Fragen widmeten sich Vortragende und Teilnehmende in einem zweiten Teil des VENRO Forums 2020.
Perspektiven auf Nord-Süd-Partnerschaften
Vortragende: Maria Klatte, Leiterin der Afrika-Abteilung, Misereor
Die COVID-19-Pandemie stelle trotz ihrer Grausamkeit eine Chance zum Wandel dar, so Maria Klatte von Misereor. Bezogen auf Nord-Süd-Partnerschaften ließen sich durch den pandemiebedingten Digitalisierungsschub mehr Partizipation und Dialog in der Zusammenarbeit etablieren. Hierfür gelte es, gemeinsam angemessene Ausrüstung und Kompetenzen im Bereich Digitalisierung voranzubringen und innovative Ansätze aus dem Globalen Süden zu stärken (z.B. Digital Banking, Gesundheits-Apps, Wetter-Apps, Monitoring). Über Online-Kanäle könnten themenspezifische Prozesse kontinuierlich gemeinsam gestaltet und begleitet werden, gemeinsam Wissen und Strategien weiterentwickelt und neue Kooperationsformen zwischen Akteur_innen aus dem Globalen Norden und -Süden etabliert werden. Für eine zukunftsfähige machtkritische Nord-Süd-Partnerschaft brauche es aber nicht nur mehr Dialog, sondern auch eine systematische Stärkung und partizipative Ausrichtung politischer Lobbyarbeit, erläuterte Klatte. Hierfür müssten relevante Themen gemeinsam identifiziert und Lobby-Strategien dazu entwickelt werden.
Postkolonialismus & Post-Development: Praktische Perspektiven für die Entwicklungszusammenarbeit
Vortragende: Dr. Julia Schöneberg, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Fachgebiet Entwicklungspolitik und Postkoloniale Studien, Universität Kassel / mit Adrian Schlegel und Tanja Verena Matheis, Stipendiatischer Arbeitskreis Globale Entwicklung & postkoloniale Verhältnisse, Friedrich-Ebert-Stiftung
Neben der Ausschöpfung digitaler Kollaborationsmöglichkeiten bedürfe es einer weitergehenden Veränderung unserer Haltung, Organisationskultur und Grundstruktur der Nord-Süd-Partnerschaften: Dr. Julia Schöneberg von der Universität Kassel skizzierte in ihrem Einführungsvortrag die kolonialen Kontinuitäten gegenwärtiger Entwicklungszusammenarbeit und stellte sie in einen historisch politischen Kontext. Sie zeigte die Dringlichkeit auf, kolonial gewachsene Denk- und Handelsweisen aufzuarbeiten und zu reformieren. Was das praktisch bedeuten könne, erörterten Adrian Schlegel und Tanja Verena Matheis von der Friedrich-Ebert-Stiftung: Eine machtsensible Zusammenarbeit mit Südpartner_innen sei angesichts komplexer postkolonialer politischer Konstellationen sehr wichtig. Zur Reformation der Zusammenarbeit gehöre es, mehr selbstinitiierte Projekte aus dem Globalen Süden zu fördern, Vermittler_innen aus Nord und Süd statt Expert_innen aus dem Globalen Norden auszubilden sowie gegenseitigen Wissensaustausch zu unterstützen und damit Wissen zu diversifizieren. Darüber hinaus bedürfe es laut Matheis und Schlegel einer kontinuierlichen Auseinandersetzung mit Machtstrukturen in der eigenen Institution sowie der persönlichen Reflektion eigener Privilegien im globalen Kontext. Weitere Anregungen zur Dekolonisierung von Nord-Süd-Partnerschaften und Entwicklungszusammenarbeit finden sich in der Publikation „Postkolonialismus & Post-Development: Praktische Perspektiven für die Entwicklungszusammenarbeit“ des stipendiatischen Arbeitskreises Globale Entwicklung und postkoloniale Verhältnisse der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Verknüpfung von entwicklungspolitischer Aus- und Inlandsarbeit
Vortragende: Chris Boppel, VENRO-Vorstandsmitglied und Vorstandsmitglied vom Eine-Welt-Netz NRW und Daniela Peulen, Leitung Bildung trifft Entwicklung NRW, Eine Welt Netz NRW e.V.
Um Diskurse wie die dargelegten gebündelt und sektorweit führen und entsprechend handeln zu können, brauche es eine Überwindung der Aufteilung der Entwicklungspolitik in Inlands- und Auslandsarbeit, argumentierten VENRO-Vorstand Chris Boppel und Daniela Peulen vom Eine-Welt-Netz NRW. Für die Umsetzung der Agenda 2030 und die Erreichung der Nachhaltigen Entwicklungsziele, welchen die In- und Auslandsarbeit verpflichtet sind, mache eine stärkere Verknüpfung Sinn. Die Verbindung zwischen notwendigen lokalen Veränderungen und der Unterstützung der Projektarbeit von Südpartner_innen könne nur umgesetzt werden, wenn auch in den Organisationen alle am gleichen Strang zögen und nicht in getrennten Bereichen gedacht werde. Damit das gelingen kann, brauche es unter anderem eine gute Vernetzung und einen Austausch zwischen den Arbeitsbereichen der Inlands- und Auslandsarbeit innerhalb der Organisationen. Dies sei nicht überall selbstverständlich.
Fazit
Die im VENRO-Forum durch die Referent_innen gesetzten Themen luden zu spannenden Fragen und Diskussionen ein, die gerne noch weitergeführt werden wollen. Was bleibt, ist eine lange Liste von neuen Trends, Impulsen und Ideen für die Veränderung und Anpassung unserer Arbeit für eine zukunftsfähige Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe – und die Ermutigung, sich ihrer anzunehmen. Viele dieser Themen finden sich im Arbeitsprogramm des Verbandes für dieses Jahr bereits wieder, andere werden vielleicht in eine nächste Strategie des Verbandes einfließen oder auf globaler Ebene weiterverfolgt werden. Als Verband möchten wir hier weiterhin Raum- und Impulsgeber_in zum Austausch, Nachdenken und Weiterentwickeln sein, sind aber auch dankbar für Hinweise auf unsere blinden Flecken und Weiterentwicklungspotenziale.
Marie Wilpers | VENRO |