Politik

Humanitäre Hilfe in der Ukraine: „Wir rechnen alle mit einer weiteren Verschärfung”

Der völkerrechtswidrige Angriff russischer Truppen auf die Ukraine zerstört die Lebensgrundlage der ukrainischen Bevölkerung und bringt für Millionen von Menschen körperliches und seelisches Leid mit sich. Im Interview erläutert Bodo von Borries, Bereichsleiter für Humanitäre Hilfe bei VENRO, was nun getan werden muss, um die Versorgung der Menschen mit den wichtigsten Hilfsgütern aufrechtzuerhalten. 

Mit welchen weiteren Folgen rechnen die Hilfsorganisationen für die Zivilbevölkerung in der Ukraine?

„Wir rechnen alle mit einer weiteren Verschärfung. Die vollständige Blockade der Stadt Mariupol mit der systematischen Unterbrechung jeglicher Versorgung wie Strom und Wasser sowie der Kommunikation und der kontinuierliche weitere Beschuss zeigen den schlimmen Verlauf, der nun Charkiw, Kiew und weiteren Großstädten bevorsteht. Es gibt massive Verletzungen des humanitären Völkerrechts und Hinweise auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Alles hängt davon ab, ob ernst gemeinte, sichere humanitäre Fluchtwege von der russischen Regierung zugestanden werden und die Versorgung mit humanitären Gütern ermöglicht wird. Die Zahlen der Geflüchteten gehen täglich nach oben. Der Gesamtbedarf für Unterstützung und Aufnahme in den Nachbarländern lässt sich nicht abschätzen. Es gibt kaum noch „sichere Sammlungspunkte“ innerhalb der Ukraine. Das schlimmste Szenario für die Bevölkerung ist ein langanhaltender Krieg um die Städte, das beste Szenario ein schneller Waffenstillstand und Start in politische Verhandlungen.“

Wie bereiten sich die Hilfsorganisationen auf den wachsenden Bedarf an Humanitärer Hilfe vor?

„International tätige Hilfsorganisationen versuchen über ukrainische Partnerorganisationen Humanitäre Hilfe zu leisten. Das ist angesichts direkter Kriegshandlungen und Gefährdung des Personals sehr schwierig. Glücklicherweise ist die Kommunikation noch recht gut möglich. Sammelorte, Verteilstrukturen und Transporte werden organisiert. Waren – vor allem Grundnahrungsmittel, Medizinprodukte, Treibstoff aber auch Hygieneprodukte – sind vor Ort kaum noch verfügbar. Auch der Zugang zu Bargeld ist schwierig. Es wurden Logistik-Hubs der Vereinten Nationen an den Grenzen eingerichtet. Ein Großteil der Hilfe in den Nachbarländern geschieht über freiwillige Initiativen. Die Solidarität in Polen, anderen Nachbarländern und Deutschland ist beeindruckend. Aber es ist eine große Herausforderung, diese Hilfe zu koordinieren. Grundsätzlich sind Geldmittel besser und flexibler einzusetzen als Sachspenden.“

Gibt es Auswirkungen des Krieges gegen die Ukraine für Krisenländer in anderen Regionen der Welt?

„Die Wucht des Krieges vor der Haustür und seine Folgen bestimmen derzeit alle Debatten und drohen andere Krisen wie Afghanistan, den Jemen oder das Horn von Afrika in den Hintergrund zu drängen. Steigende Preise für Weizen und Mais weltweit werden die Versorgung in anderen Ländern erschweren, die auf Importe angewiesen sind. Neben der Ukraine könnte auch Moldawien oder Georgien in den Blick der russischen Offensive geraten. Die Spannungen aus dem Krieg gegen die Ukraine wirken sich auch negativ auf Teile des Balkans und das Klima zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen dort aus.“

Welche Unterstützung ist von Seiten der Bundesregierung notwendig?

„Einerseits braucht es dringend weitere Mittel für Humanitäre Hilfe, die nicht in Konkurrenz zu anderen drängenden Krisen stehen. Da es noch keinen Bundeshaushalt 2022 gibt, muss dringend eine Ausnahme für die vorläufige Haushaltsführung geschaffen werden. Noch wichtiger ist aber eine breite öffentliche Debatte über die gesamte Sicherheit, einschließlich der Auswirkungen der Klimakrise und menschlicher Sicherheit. Für zukünftige Investitionen muss die richtige Balance aus langfristiger Krisenprävention, Klimaanpassung und militärischer Abwehrbereitschaft gefunden werden. Die Konzepte ziviler Instrumente und Diplomatie sind nach wie vor die richtigen Mittel, um Konflikte gar nicht erst eskalieren und humanitäre Bedarfe gar nicht erst entstehen zu lassen. Im Rahmen der geplanten Nationalen Sicherheitsstrategie der Bundesregierung sollte eine breite Debatte geführt und nicht nur kurzfristig auf die Entwicklung in der Ukraine reagiert werden.“


Bodo von Borries leitet den Bereich Humanitäre Hilfe, Frieden und Teilhabe aller in der VENRO-Geschäftsstelle. Er ist Co-Vorsitzender im Beirat der Bundesregierung ‘Zivile Krisenprävention und Friedensförderung’.