Politik

Ganz normal? Afghanistan ein Jahr nach der Rückkehr der Taliban

Zeiten, die lange vorbei sind: Eine Konferenz des medico-Partners AHRDO an der Universität in Bamyan 2017

Mit der Herrschaft der Taliban kehrten Hunger, Willkür und Gewalt zurück nach Afghanistan. Die Wirtschaft ist kollabiert, das Überleben vieler Menschen hängt an den Rücküberweisungen bereits geflohener Afghan_innen. Die Unterstellungen einer zwischenzeitlichen „Mäßigung“ der Taliban sind hingegen Wunschdenken oder bewusste Desinformation, schreibt Thomas Rudhof-Seibert von unserem Mitglied medico international.

Seit der Machtübernahme der Taliban 2021 wird stetig wiederholt, dass über 90 Prozent der Afghan_innen hungern. Begründet wird das ebenfalls wiederholt mit dem Kollaps der afghanischen Ökonomie. Fragwürdig sind gerade die Wiederholungen: müsste es zwischenzeitlich nicht noch schlimmer geworden sein? Müsste nach über einem Jahr des Massenhungers infolge des andauernden Zusammenbruchs der Wirtschaft und des Geldverkehrs nicht von einer Vielzahl von Hungertoten die Rede sein? Wer nachfragt erfährt, dass das Überleben der meisten Afghan_innen an den Rücküberweisungen der über zwei Millionen Menschen hängt, die vorher fliehen konnten und ihre Zahlungen jetzt noch einmal erhöht haben. Die Afghan_innen überleben, weil Afghan_innen helfen.

Hunger, Willkür und Gewalt: Die Taliban sind sich treu geblieben

Nicht anders verhält es sich mit Fragen nach der Herrschaft der Taliban. Die Unterstellungen einer zwischenzeitlichen „Mäßigung“ haben sich als Wunschdenken oder bewusste Desinformation erwiesen. Auch da, wo Hilfsorganisationen ihre Quelle waren: Nein, die Taliban sind sich treu geblieben. Als erste mussten das die Frauen erfahren, die unter den Schleier und zurück ins Haus, zurück auch in die Willkür ihrer eigenen Männer gezwungen wurden. Nicht anders ergeht es allen, die dem afghanischen Staat der letzten zwei Jahrzehnte verbunden waren, besonders Angehörigen von Armee und Polizei.

Im Überleben gefährdet sind auch Journalist_innen und Aktive der afghanischen Zivilgesellschaft, sofern sie nicht schon im letzten Herbst fliehen konnten. Die sowieso nie offenen Grenzen haben sich schnell gänzlich geschlossen – von den Wegen abgesehen, die im Glücksfall nach Pakistan führen. Die Versprechungen der einstigen Besatzungsmächte, sich zumindest um die eigenen „Ortskräfte“ zu bemühen, haben sich längst als hohl erwiesen.

Ganz auf sich gestellt sind schließlich die ethnisch-religiösen Minderheiten, voran die Hazara: die Talibanherrschaft ist wie früher schon eine paschtunische Herrschaft; wer kein Paschtune ist, hat schon deshalb um Haus und Land – wenn nicht ums Überleben – zu fürchten. Umgekehrt können die Taliban zumindest auf dem Land auf Unterstützung derer zählen, die davon profitieren. Und auf die Unterstützung derer, die unter der zwanzigjährigen Besatzung zu leiden hatten – von denen gibt es deutlich mehr, als man hierzulande denkt.

Was tun?

Die Frage, was zugunsten der Afghan_innen getan werden kann, ist schwer zu beantworten. Wer im Land weiter Hilfe leisten will, muss das im Einvernehmen der Taliban tun. Auf ernsthafte Unterstützung früherer „Schutzmächte“ ist kaum zu hoffen: ihre Flucht war gewollt und beschlossen, Selbstkritik wohlfeil, von Scham keine Spur. Afghan_innen, die fliehen wollen, scheitern an den Grenzen, an denen auch andere scheitern, die fliehen wollen oder müssen: Europa dichtet sich weiter ab.

Eine Option ist, denen beizustehen, deren Flucht gelang – verstärkt dort, wo sie weiter versuchen, politisch zu handeln. Viel ist das nicht. Zumal zunehmend mehr Länder des globalen Südens vor wachsendem Unheil, wo nicht selbst vor dem Zusammenbruch, stehen. Rücküberweisungen von Migrant_innen werden weltweit überlebenswichtiger. Eigentlich ein unhaltbarer Zustand.


Thomas Rudhof-Seibert ist in der Öffentlichkeitsarbeit unserer Mitgliedsorganisation medico international zuständig für Südasien und Referent für Menschenrechte.