Politik

Krieg in der Ukraine – Wie kann man die Eskalationsspirale durchbrechen?

Der Angriffskrieg Russlands verursacht unermessliches Leid und Zerstörung. Menschen sterben und mehr als eine Million Ukrainer_innen sind auf der Flucht. Um dieser dramatischen Völker- und Menschenrechtsverletzung etwas entgegenzusetzen, verabredeten die EU-Mitgliedstaaten und viele weitere Länder weitreichende Sanktionen. Doch welche Wege führen aus der Eskalationsspirale?

Zu den wichtigsten Druckmitteln zählt die Entscheidung von internationalen Organisationen und Einzelstaaten für umfassende Finanzsanktionen sowie der teilweise Ausschluss russischer Banken aus dem SWIFT-Zahlungsverkehr. Man erhofft sich davon einschneidende Wirkungen auf die russische Wirtschaft. Die umfassenden Sanktionen im Bereich von Wirtschaft und Finanzen, Handel und Politik bilden das einzige verfügbare zivile Mittel, sie sind ein wichtiges weltweites Signal und unerlässlich aus Gründen der Solidarität mit der Ukraine. Allerdings lässt sich schwer vorhersagen, welche Folgen sie für die russische Gesellschaft haben werden. Zudem können Sanktionen allenfalls mittel- und langfristig Wirkung entfalten. Man darf nicht davon ausgehen, dass sie zu einer kurzfristigen Verhaltensänderung im Kreml führen. Man muss sich auf weitere Provokationen einstellen und sich fragen, wie die Spirale der Eskalation noch eingehegt werden kann. Um zu deeskalieren, sind weitere Schritte erforderlich.

Wie kommt man raus aus der Eskalationsspirale?

Auch wenn es angesichts einer Kriegssituation, die mit so viel Leid verbunden ist, sehr schwerfällt, sollte man alle Beteiligten auffordern, weiterhin für Gespräche offenzubleiben. Es wäre fatal, jetzt vom Ende der Diplomatie zu sprechen. Gerade angesichts der Entscheidung Putins, die atomaren Streitkräfte in Alarmbereitschaft zu versetzen, müssen alle Mittel ausgeschöpft werden, um die Eskalation in einen Nuklearkrieg, aus dem es kein Zurück mehr gibt, zu beenden. Ob Verhandlungen zwischen der russischen und ukrainischen Regierung weiteres Blutvergießen verhindern könnten, ist schwer zu beurteilen. Sie sind dringend nötig, um humanitäre Standards zu vereinbaren und das Leid der Zivilbevölkerung zu begrenzen. Aber sie werden nicht ausreichen, um den Konflikt zu transformieren. Letztlich ist der Konflikt zwischen der Ukraine und Russland eingebettet in inner-ukrainische Konflikte auf der einen Seite und den übergeordneten Konflikt zwischen dem Kreml und der NATO auf der anderen Seite. Um die Gewalt zu stoppen, sind also nicht nur Gespräche zwischen der russischen und ukrainischen Führung, sondern am Ende auch über den Atlantik hinweg erforderlich.

Hilfreich wäre außerdem ein Team von Mediator_innen, das gemeinsam mit dem UN-Generalsekretär oder einem UN-Sonderbeauftragten vermittelt und mit Russland, der Ukraine und der NATO nach tragfähigen Lösungen sucht. Dies müsste allerdings aus Staaten kommen, die nicht direkt in den Konflikt eingebunden sind, und aus Akteuren zusammengesetzt sein, die alle Seiten akzeptieren können. Außerdem müssen die diplomatischen Möglichkeiten im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) genutzt werden. Zudem sollte ausgelotet werden, ob der Einfluss der chinesischen Führung auf den russischen Präsidenten genutzt werden kann.

Zwei Punkte sind wichtig, wenn man der Diplomatie eine Chance geben will: Zum ersten sollte man unbedingt auf Polemik und beleidigende Sprache verzichten, auch wenn sich der russische Präsident einer solchen bedient. Zum zweiten müssen alle Beteiligten von ihren Maximalpositionen abrücken. Letztlich wird man, um einen Rückzug der russischen Truppen aus der Ukraine zu erwirken, auch im Westen von den bisherigen Positionen abrücken und sich von der Idee einer Bündniserweiterung verabschieden müssen.

Was dient dem Frieden in Europa?

Vor Monaten schon forderte eine Gruppe von ehemaligen Diplomaten, Bundeswehrsoldaten und Wissenschaftler_innen, eine mehrjährige Konferenz einzurichten, die die Wiederbelebung einer europäischen Sicherheitsarchitektur verhandeln sollte – auf der Grundlage der Helsinki-Schlussakte von 1975, der Charta von Paris (1990) und der Budapester Vereinbarung von 1994. Die Idee war, dass währenddessen auf eine Stationierung von zusätzlichen Truppen und die Errichtung von Infrastruktur auf beiden Seiten der Grenze der Russischen Föderation zu ihren westlichen Nachbarn verzichtet werden sollte und vertrauensbildende Maßnahmen vereinbart werden sollten. Gefordert wurde auch, Rüstungskontrollgespräche im Rahmen des NATO-Russlandrats zu suchen. Dieser Vorschlag wurde damals nicht aufgegriffen, man hat die Dinge einfach laufen lassen. Er ist aber auch jetzt nicht obsolet. Man darf die Hoffnung auf die Herstellung einer europäischen Friedensordnung nicht aufgeben.

Nur über den Dialog kann man versuchen, eine langfristige Sicherheitsordnung in Europa aufzubauen, die von allen Seiten mitgetragen wird. Gleichzeitig muss man die Hoffnung darauf richten, dass sich im Umfeld des Kreml irgendwann wieder Berater Gehör verschaffen können, die über Erfahrung in der Diplomatie verfügen und die Vorteile kooperativer Sicherheitsstrukturen zu schätzen wissen. Sicherheit in Europa wird langfristig nicht gegen, sondern nur mit Russland herstellbar sein. Dieser Satz, der von namhaften Sicherheitspolitiker_innen seit Jahrzehnten und auch von Bundeskanzler Olaf Scholz erst kürzlich wiederholt wurde, bleibt richtig. Wir brauchen eine europäische Sicherheitsarchitektur, die garantiert, dass Grenzen geachtet werden und dass sich Sicherheit an den Bedürfnissen der Menschen, also an „menschlicher Sicherheit“ orientiert. Diese sollte weder von Russland diktiert, noch von den Vereinigten Staaten dominiert werden, sondern eine völlig neue, europäische Ausrichtung haben. Die Struktur dafür bietet die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), nicht der Ausbau von Militärbündnissen in Ost und West, die sich dann nach dem Vorbild des Kalten Krieges wieder waffenstarrend gegenüberstehen. Eine erneute Hochrüstung nach diesem Modell würde dazu führen, dass für die Bewältigung der großen Krisen, die die Menschheit herausfordern – dazu gehören unter anderem Pandemien, die Klimakrise und das Artensterben – keine Mittel mehr zur Verfügung stehen.


Eine ausführliche Fassung dieses Beitrags erschien am 27.02.2022 unter: https://www.brot-fuer-die-welt.de/blog/2022-krieg-in-der-ukraine/

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Dr. Martina Fischer ist Politikwissenschaftlerin und arbeitet seit 2016 als Referentin für Frieden und Konfliktbearbeitung bei unserer Mitgliedsorganisation Brot für die Welt. Zuvor war sie drei Jahrzehnte in der Friedens- und Konfliktforschung tätig, davon fast zwanzig Jahre bei der Berghof Foundation in Berlin.