Politik

Shrinking Space im Schatten von Corona: Zivilgesellschaft befürchtet Autoritarisierung der politischen Systeme

Eine Frau protestiert in der brasilianischen Stadt Salvador.

In Lateinamerika werden in Reaktion auf die Corona-Pandemie drastische Einschränkungen der Bürgerrechte in Schnellverfahren und ohne jede Ankündigung verhängt, berichtet Menschenrechtsexperte Stefan Ofteringer von unserem Mitglied MISEREOR. Die engagierte Zivilgesellschaft warnt vor einer Zunahme des Autoritarismus und der Militarisierung der Politik.

Seit Wochen stehen wir im engen Kontakt mit unseren Partnern in Lateinamerika, um die Auswirkungen der Corona-Krise zu analysieren. Nirgendwo hatte das Thema so eine Dynamik wie in Brasilien, denn von dem Moment an, als die Pandemie Lateinamerika erreichte, wurden intensive politische Konflikte um die angemessene Reaktion auf die Krise deutlich. Diese folgten zunächst den Bruchlinien in der stark polarisierten brasilianischen Gesellschaft, die sich zwischen Gegner_innen und Befürworter_innen des Präsidenten Jair Bolsonaro auftun. Nach kurzer Zeit wurde aber deutlich, wie sehr auch das Regierungslager gespalten ist, denn innerhalb weniger Wochen traten zwei Gesundheitsminister zurück, da beide die Untätigkeit des Präsidenten angesichts der Pandemie und seine Verbalattacken nicht mehr hinnehmen wollten. Nun ist Brasilien das Land mit der höchsten Ansteckungsrate in Lateinamerika, während der Präsident weiterhin von einem „Grippchen“ spricht.

Angesichts dieser polarisierten Situation befürchtet die engagierte brasilianische Zivilgesellschaft eine Zunahme des Autoritarismus und der Militarisierung der Politik. Kurz vor den landesweiten Protesten vom ersten Juni-Wochenende gegen die Untätigkeit der nationalen Regierung und die wachsende Repression wurde aus einem Abgeordnetenbüro einer der Unterstützer Bolsonaros eine Liste mit etwa tausend Namen von Personen veröffentlicht, die sich als Antifaschist_innen engagieren und zu den Protesten aufgerufen hatten. Gleichzeitig startete der Präsident eine Initiative, mit der ihm nahestehende Geheimdienstbüros Zugriff auf Daten von über 80 Millionen Brasilianer_innen erhalten sollen, die in zivilen Datenbanken registriert sind und sich nichts zuschulden haben kommen lassen. Die befürchtete Autoritarisierung hat also einen realen Hintergrund.

Verstöße gegen Menschenrechte auch in Honduras und Kolumbien

Ähnliche Tendenzen zeichnen sich in Honduras ab, wo in Reaktion auf die Pandemie drastische Einschränkungen der Bürgerrechte in Schnellverfahren und ohne jede Ankündigung verhängt wurden. Schon einen Tag nach der Verhängung der Sondermaßnahmen und einer weitgehenden Ausgangssperre  wurde am 17. März 2020 die Menschenrechtsverteidigerin Aleyda Huete verhaftet, die Sprecherin einer Gruppe war, die sich gegen den Wahlbetrug bei der letzten Präsidentschaftswahl engagiert hat. Kurze Zeit später haben Organisationen aus San Pedro Sula berichtet, dass es massive Übergriffe und Festnahmen gegen Personen gab, die geringere Verstöße gegen die Ausgangsbeschränkungen begangen haben, während die arme Bevölkerung keine Humanitäre Hilfe erhalten hat. Exzessiver Gewalteinsatz bei Festnahmen und Erpressung von Bestechungsgeldern wurden von Zeugen berichtet.

Auch in Kolumbien registrieren Partnerorganisationen von MISEREOR Verstöße gegen die Menschenrechte im Rahmen der Corona-Pandemie. Erschütternd sind die fortgesetzten Angriffe auf Menschenrechtsverteidiger_innen während der Krise, die gegenüber den Vormonaten sogar angestiegen sind, so das Programm für zivilgesellschaftlichen Schutz von Menschenrechtsverteidiger_innen, Somos Defensores. „Die Mörder haben keine Ausgangssperre“ war der Tenor vieler Kommentare in den sozialen Netzwerken, nachdem mehrere soziale Führungskräfte und ehemalige Guerilla-Kämpfer_innen, die sich dem Friedensprozess angeschlossen hatten, zwischen Ende März und Anfang Mai umgebracht wurden.

Gleichzeitig zeigt sich in Kolumbien auch, wie mächtige Wirtschaftsinteressen versuchen, die Pandemie zu nutzen, um ihre Interessen gegen die Rechte der lokalen Bevölkerung durchzusetzen: Unternehmerverbände forderten Einschränkungen für die gesetzlich verbriefte vorherige Anhörung und Zustimmung lokaler Bevölkerung bei Großprojekten in den Bereichen Bergbau, Ölförderung und Agroindustrie. Diese Projekte bergen ein großes Konfliktpotential in Kolumbien – hier sollten eher höhere Standards als Aufweichungen der bestehenden Verpflichtungen angestrebt werden.

Es gibt auch Anlass zur Hoffnung

Insgesamt zeigt sich ein schwieriges Bild für die Menschenrechte und die Spielräume der Zivilgesellschaft in Lateinamerika. Dennoch ist Hoffnung angebracht, denn die engagierten Organisationen nutzen den Kontext der Pandemie um Vorschläge zur nachhaltigen Verbesserung der Lebensgrundlagen benachteiligter Menschen einzubringen, wie etwa die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen oder nach grundsätzlichen Reformen in den Gesundheitssystemen. Dort liegt die Hoffnung für eine Transformation der bestehenden Verhältnisse – hoffentlich verbunden mit besseren Garantien für die Ausübung ihrer Rechte.


Stefan Ofteringer ist Berater auf Zeit für Menschenrechte bei unserer Mitgliedsorganisation MISEREOR.