Politik

Zivilgesellschaftliche Handlungsräume in Deutschland im Wandel?

Der zivilgesellschaftliche Handlungsraum in Deutschland ist im CIVICUS-Ranking erstmals zu “beeinträchtigt” herabgestuft worden. Diese Entwicklung ist ein Weckruf, der international nicht unbemerkt bleibt. Zwar ist die Lage in Deutschland im globalen Vergleich noch immer privilegiert, doch die Einschränkungen dürfen nicht ignoriert werden. 

Im Dezember 2023 – am Ende eines Jahres, das von politischem Aufruhr und zunehmender Besorgnis um die Einschränkungen des zivilgesellschaftlichen Handlungsraums („Civic Space“) geprägt war – wies CIVICUS, ein weltweites Netzwerk für Bürger_innenbeteiligung, darauf hin, dass sich die Lage auch in Deutschland verschlechtert hat. Der zivilgesellschaftliche Handlungsraum in Deutschland wurde von „offen“ zu „beeinträchtigt“ herabgestuft. Deutschland steht damit auf einer Ebene mit den meisten europäischen Ländern und doch ist diese Entwicklung alarmierend – nicht nur, aber vor allem im Hinblick auf die Einschränkungen, denen Klimaaktivist_innen ausgesetzt sind. Aus diesem Grund nimmt sich der diesjährige „Atlas der Zivilgesellschaft“ von Brot für die Welt auch dem Thema Klimaproteste an.

VENRO befasst sich im Rahmen der AG Stärkung zivilgesellschaftlicher Handlungsräume intensiv mit diesen Entwicklungen. Zwar operieren wir in Deutschland in einem vergleichsweise privilegierten Umfeld, doch die Einschränkungen, die wir beobachten, dürfen nicht ignoriert werden. Die Kriminalisierung von Klimaaktivist_innen, beispielsweise der Bewegung Letzte Generation, und die überproportionalen Reaktionen auf Proteste, wie die Auflösung von Klimademonstrationen und die Blockierung von Websites, sind besorgniserregend.

Deutschland verliert international an Glaubwürdigkeit

Die Stigmatisierung von Aktivist_innen der Letzten Generation als „Klimaterrorist_innen“ oder der zu beobachtende „shrinking humanitarian space“ der am Umgang mit der Seenotrettung deutlich wird, verdeutlichen dies. Exzessive Polizeigewalt, wie sie laut CIVICUS im Januar 2023 in Lützerath zu sehen war, als rund 700 Demonstrant_innen gewaltsam vertrieben wurden, zeigt, dass auch in Demokratien zivilgesellschaftliches Engagement kriminalisiert werden kann. VENRO-Mitgliedsorganisationen beobachten außerdem zunehmende Einschränkungen. Diese erfolgen z. B. durch das veraltete Gemeinnützigkeitsrecht, durch unverhältnismäßige Beschränkungen für Nichtregierungsorganisationen (NRO) bzw. Infragestellung ihrer Zusammenarbeit mit legitimen zivilgesellschaftlichen Organisationen in anderen Ländern (momentan insbesondere im Kontext des eskalierten Konflikts im Nahen Osten), durch Beschränkungen des politischen Engagements, sowie durch Einschränkungen von politischen Bildungsaktivitäten (z.B. begrenzte Finanzierung von Anti-Rassismus-Initiativen). Ebenso problematisch ist das Vorgehen gegen pro-palästinensische Demonstrant_innen, welches das Recht auf friedliche Versammlung verletzt.

Diese Ereignisse sind ein Weckruf. Deutschland, einst mit großer Vorbildrolle für demokratische Rechte in Europa, verliert an Glaubwürdigkeit. Wenn wir uns nicht für die Einhaltung der Menschenrechte im eigenen Land stark machen, wie können wir dann Glaubwürdigkeit in unseren internationalen Bemühungen erwarten? Sichtbar wird dies auch in den Empfehlungen an Deutschland im aktuellen Überprüfungsverfahren vor dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen. Erstmals wurde Deutschland von mehreren Staaten darauf hingewiesen, sich stärker für Versammlungsfreiheit im eigenen Land einzusetzen. Diese Entwicklungen und Empfehlungen bleiben auch von Partnerorganisationen nicht unbemerkt:

“I am sad to learn that the global trend of shrinking civic space has gone beyond autocratic regimes and touched democratic countries such as Germany. Such slide is unfortunately setting our governments in the comfort of belonging to a group that includes Germany and maybe other democratic countries. We, as civic space advocates, are losing arguments when democracies repress their citizens and NGOs, on migration, on climate, on Palestine…”

(Amine Ghali, Direktor des Al-Kawakibi Democracy Transition Center / KADEM in Tunesien und langjährige Partnerorganisation von Oxfam Deutschland e.V.)

Die Entwicklungen in Deutschland müssen also auch im globalen Kontext gesehen werden. In Ländern des Globalen Südens sind die Einschränkungen des zivilgesellschaftlichen Handlungsraums oft noch viel restriktiver. In Vietnam beispielsweise versuchen Partnerorganisationen von VENRO-Mitgliedern trotz immenser Herausforderungen kleine Gesetzeslücken für sich zu nutzen, Beziehungen zu wohlgesonnen Politiker_innen zu pflegen und die Einflussnahme von Unternehmen zurückzudrängen. Von diesen Erfahrungen können wir im Zweifel bei uns lernen. Die Lage in Deutschland ist zwar ernst, aber im internationalen Vergleich noch immer privilegiert.

Notwendigkeit, lokal und global zu handeln

Ende 2022 hatte das Maecenata Institut in einer Untersuchung zur Lage der Zivilgesellschaft in Deutschland gesagt, dass (noch) nicht eindeutig gezeigt werden könne, „ob hinter den zahlreichen Nadelstichen gegen einzelne Akteure der Zivilgesellschaft eine von Parteien, Staatsverwaltung und Wirtschaft verfolgte Strategie erkannt werden sollte, die sich aus Wettbewerbsvorstellungen und Machtinteressen speist.“ Seither hat sich die Lage weiter zugespitzt.

Wir bei VENRO sehen die Notwendigkeit, sowohl lokal als auch global zu handeln – und zwar jetzt. Es gilt, sich gegen die Beschränkungen von Zivilgesellschaft hier einzusetzen und gleichzeitig Solidarität mit zivilgesellschaftlichen Akteur_innen in Ländern zu zeigen, die unter weitaus restriktiveren Bedingungen arbeiten. Denn der Kampf um freie Meinungsäußerung, um Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit bleibt eine globale Herausforderung.