Politik

Ohne Dialog mit den Taliban bewegt sich nichts in Afghanistan

Afghanische Mädchen in einer Schule in Herat/Afghanistan im Jahr 2019

Angesichts der Not der afghanischen Zivilbevölkerung steckt die Bundesregierung nach dem überhasteten Truppenabzug in einem Dilemma: Eine Stärkung der Zivilgesellschaft geht nur einher mit Zugeständnissen an die Taliban. Anna Dirksmeier, Afghanistanreferentin bei MISEREOR, beschreibt, vor welchen Herausforderungen zivilgesellschaftliche Organisationen seit der Machtübernahme der Taliban stehen.

Die Machtübernahme der Taliban und der hektische Truppenabzug aus Afghanistan vor einem Jahr unterminierten den Glauben an westliche Verlässlichkeit und an das Peace Keeping-Konzept der Vereinten Nationen (UN). Danach überschlugen sich die Solidaritätsbeteuerungen mit der afghanischen Zivilbevölkerung. Doch Hilfsmaßnahmen ließen auf sich warten, denn in Deutschland war Wahlkampf. Später waren die Politiker_innen mit der Regierungsbildung beschäftigt. Bald darauf erklärte Putin der Ukraine den Krieg.

Afghanischen Ortskräften war ein Leben in Sicherheit versprochen worden, weil sie aufgrund ihrer Unterstützungsdienste für die NATO von den Taliban massiv verfolgt werden. Nach einer ersten Aufnahmewelle hat das Auswärtige Amt die Listenplätze plötzlich monatelang geschlossen. Inzwischen wurden sie zwar wieder geöffnet, aber es bleibt noch unklar, auf welche ebenfalls stark bedrohte Gruppen – etwa Menschenrechtsaktivist_innen, LBTQI-Personen, Frauenrechtlerinnen und Journalist_innen – sie ausgeweitet werden.

Braindrain“ ist ein Problem, da viele gebildete Menschen das Land verlassen. Dies darf aber nicht zur Ausrede für eine mögliche Zuwanderungsbeschränkung für Verfolgte werden. Die NATO-Staaten haben eine politische Verantwortung für ihre einst Verbündeten und durch sie in Gefahr gebrachten Ortskräfte. Diese Verantwortung erstreckt sich aber auch auf die Bevölkerung insgesamt, der Demokratie und Freiheit versprochen wurde. Die Menschen kämpfen jetzt um das nackte Überleben. Schon jetzt haben 95 Prozent der Bevölkerung nicht mehr als zwei karge Mahlzeiten pro Tag zu essen, zudem steht ein weiterer harscher Winter bevor. Hunderttausende Flüchtlinge müssen versorgt werden – in Afghanistan selbst, wo laut UN-Angaben 5,5 Millionen intern Vertriebene unter prekären Bedingungen leben, und in den Anrainerstaaten. In Pakistan sind Tausende aus Afghanistan Geflüchtete von der aktuellen Überschwemmungskatastrophe betroffen. Die Not ist unbeschreiblich.

In dieser Situation schaut die Politik auf nichtstaatliche und kirchliche Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit. Jedoch wird die Arbeit dieser Organisationen dadurch zunehmend erschwert, dass die Auslandsguthaben der afghanischen Zentralbank von den Westmächten eingefroren wurden. Geldtransfers auf normalem Weg sind dadurch nicht möglich, – und damit auch keine Geldtransfers von Verwandten aus dem Ausland zur Unterstützung ihrer Familien in Afghanistan. Trotz eines gewissen humanen Pragmatismus in Politik und Verwaltung könnten die Risiken des Ausweichens auf andere Finanzierungswege auf die nichtstaatlichen Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit und auf ihre lokalen Partnerorganisationen abgewälzt werden.

Der Bankenboykott erschwert die zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit

Die Finanzhilfen der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit sind auf Eis gelegt. Umso mehr möchte das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), dass die nichtstaatlichen Werke ihr Engagement in Afghanistan erhöhen. Diese Organisationen können aber nicht die zwangsläufigen sozialen Härten der Sanktionspolitik auffangen. Die Sanktionspolitik ist neben anderen Gründen eine wesentliche Ursache der derzeitigen akuten Unterernährung von mehr als 50 Prozent der afghanischen Kinder. Durch das Einfrieren der Auslandsguthaben und den Bankenboykott mangelt es nämlich chronisch an Bargeld. Die lokale Währung Afghani liegt am Boden und die Wirtschaft befindet sich dadurch in einer schweren Rezession: Gehälter können nicht bezahlt, Waren nicht eingekauft werden. Die Arbeitslosigkeit ist hoch. Ausländische Geldgeber hatten „bislang drei Viertel zum Staatshaushalt beigetragen“ (FAZ, 30.05.22). Die Sanktionspolitik trifft in erster Linie die Bevölkerung, weniger die Taliban, die zumindest noch über Einnahmen aus dem Opiumhandel verfügen. Auch Entwicklungsprojekte werden durch den Bankenboykott massiv behindert, wenn nicht gar ausgetrocknet. Entwicklungs- und Hilfsorganisationen und ihre afghanischen Partnerorganisationen müssen zusammen mit ihren lokalen Partnerorganisationen einen enormen Zeitaufwand betreiben, um alternative Zahlungswege zu finden und genehmigen zu lassen.

Korruption nahm während des NATO-Einsatzes zu

Deutschland war innerhalb des NATO-Einsatzes der wichtigste Verbündete der USA und hat mit dem Truppenabzug ein militärisches Vakuum hinterlassen, das zunehmend durch Al Quaida und IS-Terrorakte gefüllt wird. Zu erwarten sind auch Richtungskämpfe zwischen den moderateren Taliban und den Hardlinern des Haqqani-Netzwerks, dessen Leiter der afghanische Innenminister Sirajuddin Haqqani ist und das größeren Zugang zum mächtigen religiösen Oberhaupt hat, dem Emir Haibatullah Akhundzada. Mit dem NATO-Einsatz wurden eine erhöhte Stabilität, gute Regierungsführung und demokratische Strukturen versprochen. Diese Ziele wurden nur sehr begrenzt erreicht. Korruption und schlechte lokale Regierungsführung konnten während der Zeit des NATO-Einsatzes nicht beseitigt werden, sondern wuchsen gemessen an den eigenen Zielen an.

Demokratische Errungenschaften gab es vor allem in den Städten. Projekte der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit erreichten über 60 Prozent des Landes aus Sicherheitsgründen nicht und bezogen die afghanische Zivilbevölkerung zu wenig ein. Statt ownership, die Übernahme von Eigenverantwortung, wurden die Projekte von a ußen gesteuert. Auf dem Land herrschten patriarchale Strukturen weiter, selten wurden Mädchen in den letzten zwanzig Jahren zur Schule geschickt. Die Bilanz der viel gerühmten „Erfolge“ von 20 Jahren ziviler Intervention: 76 Prozent der Frauen sind Analphabetinnen (vgl. World Fact Book), Tendenz rapide steigend. Nur in den wenigen Städten gelang es, eine selbstbewusste Zivilbevölkerung mit hohem weiblichem Anteil zu fördern. Die Westmächte wurden als Eindringlinge oder gar Besatzer gesehen, die von ihnen aufgebaute lokale Regierung als ihr Werkzeug – ohne Verankerung in der afghanischen Gesellschaft.

Das Image der letzten afghanischen Regierung als Marionette hat die Trump-Regierung durch einen Kapitalfehler verfestigt. Indem sie dieser ein Mitspracherecht am Doha-Abkommen mit den Taliban („Agreement for Bringing Peace to Afghanistan“, 2020) verweigerte, gaben die USA die afghanische Regierung endgültig einer Einordnung als bedeutungslos preis. Auch die Zivilbevölkerung, die am meisten unter dem Krieg litt, wurde an Friedensgesprächen nicht beteiligt. Von vorn herein hatten die USA eher militärische als Entwicklungsinteressen verfolgt. Die über 80 an der Afghanistan-Intervention beteiligten ausländischen Staaten hatten keinen einheitlichen Kurs und verfolgten widersprüchliche Strategien: den zivilen Aufbau einerseits und einen Militäreinsatz zur Terrorismusbekämpfung unter Inkaufnahme erheblicher Zerstörungen und einer hohen Anzahl ziviler Opfer andererseits.

Außer als Lehrerinnen oder im Gesundheitssektor finden Frauen keine Anstellung mehr

Nachhaltig war diese Politik nicht, weder in der Terrorbekämpfung – der letzte IS Bombenanschlag ist erst wenige Tage her – noch im sozialen Bereich. Die afghanische Kultur und ihre Subkulturen haben sehr wenig von einer grundsätzlichen Menschenrechtsorientierung aufnehmen können. Heute werden grundlegende Menschenrechte wie die Presse- oder Versammlungsfreiheit missachtet. Die alleinige Zuordnung dieser Menschenrechtsignoranz zur Machtergreifung der Taliban wäre zu einfach, denn auch unter der vorherigen demokratischen Regierung gab es Verfehlungen.

Frauen und Mädchen werden auf Schritt und Tritt kontrolliert und infantilisiert. Sie dürfen das Haus nur mit männlichen Aufpassern verlassen. Nicht sie selbst, sondern ihre Brüder, Väter oder Ehemänner werden bei „Fehlverhalten“ zur Rechenschaft gezogen – eine weitere Entmündigung. Reisen dürfen sie nur circa 70 km weit, weiter nur mit einer Spezialerlaubnis und in männlicher Begleitung. Ein Ganzkörperschleier ist Pflicht. Es herrscht ein De-facto-Berufsverbot: Außer als Lehrerinnen oder im Gesundheitssektor finden Frauen keine Anstellung mehr. Und bald wird es an Ärztinnen fehlen, wenn Mädchen weiterhin keine weiterführenden Schulen besuchen dürfen. Wer soll dann Geburtshilfe leisten und kranke Frauen behandeln, wenn Männer Frauen nicht ansehen, geschweige denn anrühren dürfen, und was sagt das über das Männerbild aus?

Die Moderaten unter den Taliban haben durchaus die Einsicht, dass es für die Entwicklung kontraproduktiv ist, Frauen zu Hause einzusperren und ihr Potential nicht zu nutzen. Viele Taliban, so berichten unsere Projektpartner_innen vor Ort, sind eher unsicher und lernbegierig, lassen sich auch hin und wieder von Frauen überzeugen. So konnten mutige Frauen im Gespräch mit lokalen Taliban – auf Basis einer progressiven Lesart des islamischen Rechts – Frauenrechte durchsetzen. Sie erreichten zum Beispiel, dass die durch Unterstützung von Misereor aufgebauten Frauenzentren zur (Berufs)-Ausbildung im Norden des Landes wiedereröffnen durften und sie selbst ohne männliche Begleitung die Zentren aufsuchen können. Landesweit ist ein Fünftel der weiterführenden Schulen für Mädchen geöffnet. Meist sind dies private Schulen, aber auch staatliche. Unter den Taliban wurde das Erbrecht für Frauen eingeführt. Das zeigt, dass sich die Hardliner nicht in allen Regionen und Bereichen durchsetzen konnten.

Der Einsatz für eine menschenrechtsinklusive Kultur ist alternativlos

Politisch bedeutet dies, dass die Bundesregierung auf die moderaten Kräfte setzen kann und muss. So könnte der stark eingeschränkte Spielraum für die Zivilbevölkerung nach und nach wieder geöffnet werden. Es wäre fatal, vorhandene Chancen zu ignorieren. Die Bundesregierung ist allerdings in einem Dilemma: Einerseits kann sie kein Unrechtsregime, das die Menschenrechte missachtet, anerkennen. Andererseits geht eine Stärkung der Zivilgesellschaft nur einher mit Zugeständnissen an die Taliban. Nichts zu tun wäre das Schlimmste – und auch wegen der Rolle Deutschlands im Afghanistankrieg nicht angemessen.

Misereor und andere zivilgesellschaftliche Organisationen haben eine Aufarbeitung der letzten 20 Jahre gefordert. Nun hat der Bundestag eine Enquete Kommission und einen Untersuchungsausschuss eingesetzt. Hoffen wir, dass nicht erst deren Ergebnisse abgewartet werden. Dann könnte es Jahre dauern, bevor substantielle Hilfe für die Bevölkerung eintrifft, die Strukturen verändert und nicht nur rein humanitär ist wie bisher. Zwar benötigen die Not leidenden Menschen akut deutlich mehr humanitäre Hilfe, sie ist aber nicht nachhaltig, macht die Menschen zu Almosenempfänger_innen und fordert und fördert kein Umdenken der Taliban. Letztlich ist der Einsatz für eine Entwicklung der reichen afghanischen Kultur hin zu einer menschenrechtsinklusiven Kultur alternativlos. Ehemalige Bekenntnisse zu Entwicklungszielen in Afghanistan verlieren im Nachhinein an Glaubwürdigkeit, wenn sie aufgegeben werden.

Ohne Dialog mit den Taliban bewegt sich nichts in Afghanistan, erst recht nichts für die entrechteten Mädchen und Frauen.