In vielen Ländern weltweit verwischen die Grenzen zwischen Demokratie und Autokratie immer mehr. Abweichende Meinungen werden unterdrückt und der Einsatz für Menschenrechte wird immer gefährlicher. Die „größte Demokratie der Welt“, wie Indien immer noch von vielen genannt wird, ist ein Beispiel für diese Entwicklung. In dem Land, das in diesem Jahr den 75. Jahrestag seiner Unabhängigkeit feiert, steckt die Idee einer offenen Demokratie mit freier Meinungsäußerung, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie dem Schutz der Bürger_innen- und Grundrechte in der Krise.
Die Einschätzungen sind eindeutig: CIVICUS, das weltweite Netzwerk für Bürger_innenbeteiligung, klassifiziert den zivilgesellschaftlichen Raum in dem südasiatischen Land seit 2019 als „unterdrückt“. Ein Zustand, in dem zivilgesellschaftliche Akteur_innen, die die Machthaber kritisieren, überwacht, schikaniert, eingeschüchtert, inhaftiert und werden oder sogar den Tod riskieren. Der Bertelsmann Transformationsindex spricht aktuell von Indien als „defekter Demokratie“. Noch 2012 stufte der Index das Land als „stabile Demokratie“ ein. Das Varieties of Democracy Institute aus Schweden bezeichnet das südasiatische Land als „Wahlautokratie“ und im Weltindex für Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen 2021 belegte Indien nur noch Rang 142 von 180 Ländern. Die Menschenrechtsorganisation Front Line Defenders dokumentierte 2021 in Indien die vierthöchste Zahl von Morden an Menschenrechtsverteidiger_innen weltweit.
Verfassung mit klarem Menschenrechtsbekenntnis
Entgegen der Idee eines freien demokratischen Staates, wie er von den Autor_innen der indischen Verfassung angestrebt wurde, ist das öffentliche Klima in Indien im letzten Jahrzehnt aggressiver und intoleranter geworden. Um dies zu verstehen, ist es hilfreich, einen Blick in die jüngere Vergangenheit zu werfen: Die indische Unabhängigkeitsbewegung kämpfte bis 1947 nicht nur für ein freies Land, sondern auch für einen demokratischen Staat, der allen seinen Bürger_innen Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit garantiert. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Indien einen wichtigen Beitrag zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) von 1948 leistete. Die nur kurze Zeit später, 1950, verabschiedete indische Verfassung enthält ein klares Bekenntnis zu den Menschenrechten. Abgesehen vom Ausnahmezustand der Jahre 1975 bis 1977 gab es in Indien trotz all seiner sozio-politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen kaum Einschränkungen der Grundfreiheiten.
Die derzeitige Lage im Land wird jedoch maßgeblich von einem Indienbild beeinflusst, das vom hindu-nationalistischen Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) propagiert wird. Dabei handelt es sich um eine gesellschaftspolitische Organisation, die sich von der nationalsozialistischen Ideologie inspirieren lässt und behauptet, Indien gehöre allein den Hindus. Im Jahr 1950 lehnte der RSS die indische Verfassung ab und forderte, das Manusmriti, das alte hinduistische Gesetzbuch, das die Kastenhierarchie in der Gesellschaft festschreibt, zum Gesetz des Landes zu machen.
Mahatma Gandhi wurde 1948 von einem RSS-Kader erschossen. Im Laufe der Zeit wurde Rashtriya Swayamsevak Sangh, eine der größten und mächtigsten Nichtregierungsorganisationen weltweit, zu einer Kaderorganisation. Sie ist tief in der indischen Gesellschaft verwurzelt, vor allem unter den Hindus der oberen Kasten. Die derzeitige Regierungspartei, die Bhartaiya Janata Party (BJP), ist das politische Gesicht des RSS. Sie kam 2014 an die Macht und machte den Hindu-Nationalisten Narendra Modi zum Premierminister. 2019 folgte dann ein weiterer Wahlsieg Modis, diesmal mit absoluter Mehrheit.
Der öffentliche Diskurs, der seither zunehmende Unterstützung erfährt, definiert Nationalismus und Patriotismus neu. Personen und Organisationen, die den Staat und seine Politik kritisieren, werden vom Staat und dominanten Gruppen, die mit der Regierungspartei sympathisieren, als ernsthafte Bedrohung des „nationalen Interesses” diskreditiert. Betroffen sind unter anderem diejenigen, die sich für Menschenrechte, insbesondere für die Rechte religiöser Minderheiten, von Dalits (Kastenlosen) oder Adivasi (Angehörige indigener Gemeinschaften) einsetzen.
Human Rights Defenders Alert – India (HRDA), ein nationales Netzwerk für Menschenrechtsverteidiger_innen, hat im Zeitraum von 2015 bis 2021 fast 600 Angriffe auf Menschenrechtler_innen dokumentiert. In über 60 Prozent dieser Fälle wurden gesetzliche Bestimmungen missbraucht, um Aktivist_innen zu kriminalisieren. Viele wurden wegen Straftaten wie Aufwiegelung oder auf Basis von Anti-Terror-Gesetzen wie dem 1967 erlassenen Gesetz zur Verhinderung rechtswidriger Aktivitäten (Unlawful Activities (Prevention) Act, UAPA) angeklagt.
Dieses Gesetz sollte dazu beitragen, Aktivitäten zu bekämpfen, die sich gegen die Integrität und Souveränität Indiens richten. Aber die jüngste Änderung des Gesetzes im Jahr 2019 hat es möglich gemacht, Personen ohne ein ordentliches Verfahren wegen Terrorismusverdachts in Untersuchungshaft zu nehmen. Es kann so als legale Waffe eingesetzt werden, um Menschenrechtsverteidiger_innen zum Schweigen zu bringen. Mehrere UN-Institutionen haben öffentlich große Bedenken gegen die aktuelle Form des Gesetzes und seinen Missbrauch durch die indische Regierung geäußert.
Menschenrechtsverteidiger_innen sind besonderen Gefahren ausgesetzt
Auf tragische Weise verdeutlicht dies der international bekannt gewordene Fall des Jesuitenpriesters Stan Swamy SJ. Swamy wurde zusammen mit 15 anderen prominenten indischen Menschenrechtsverteidiger_innen beschuldigt, in einem über 2.000 Kilometer von seinem Wohnort entfernten Dorf an Gewalttaten beteiligt gewesen zu sein. Er soll zudem Verbindungen zur verbotenen maoistisch orientierten Kommunistischen Partei Indiens unterhalten haben. Swamy verbrachte sein Leben damit, sich für die Rechte indigener Gemeinschaften einzusetzen. Oft geschah dies gegen politisch protegierte, mächtige Wirtschaftsakteur_innen, die versuchen, Zugriff auf das angestammte Land der Indigenen zu bekommen, um Bergbau-, Plantagen- oder Industrieprojekte umzusetzen.
Im Oktober 2020 wurde der damals 83-Jährige verhaftet und in Untersuchungshaft genommen, obwohl hierfür keine rechtliche Grundlage gegeben war. Swamy litt an Parkinson und erkrankte in dem überfüllten Gefängnis mit schlechter medizinischer Versorgung an Covid-19. Trotz nationaler und internationaler Proteste – darunter auch Interventionen verschiedener UN-Sonderberichterstatter_innen, die auf juristische Unzulänglichkeiten und unmenschliche Haftbedingungen hingewiesen haben – wurde ihm eine angemessene medizinische Behandlung verweigert. Mehrere Kautionsanträge wurden abgelehnt. Ohne seine Heimat im Bundesstaat Jharkhand, für dessen indigene Bevölkerung er sich sein ganzes Leben lang eingesetzt hatte, je wiedergesehen zu haben, starb Stan Swamy am 5. Juli 2021, wenige Tage nach seiner Verlegung in ein Krankenhaus.
Besonderen Gefahren setzen sich Menschen und Organisationen aus, die für die Rechte der Bevölkerung in Regionen wie Kaschmir oder Nordostindien eintreten. Ein Beispiel dafür ist der prominente kaschmirische Menschenrechtsaktivist Khurram Parvez, der auch Vorsitzender der Asian Federation Against Involuntary Disappearances (AFAD) ist. Er wurde vom indischen Staat und seinen Behörden regelmäßig auf vielfältige Weise schikaniert, weil er in globalen Foren auf Menschenrechtsverletzungen in Kaschmir hingewiesen hat. Im November 2021 wurde Khurram Parvez auf der Grundlage des Unlawful Activities (Prevention) Act unter dem nicht weiter belegten Vorwurf der Terrorfinanzierung und der Verschwörung verhaftet. Er ist nun im größten Gefängnis Südasiens inhaftiert, dem Tihar-Gefängnis in Delhi.
In Delhi fanden zwischen Dezember 2019 und Februar 2020 friedliche Proteste gegen das umstrittene Staatsbürgerschaftsgesetz (Citizenship Amendment Act, CAA) statt. Radikale Hindu-Nationalisten antworteten darauf von der Polizei völlig ungehindert mit gewaltsamen Ausschreitungen und Attacken auf Demonstrant_innen und muslimische Gemeinschaften. Friedlich Protestierende wurden nach dem Anti-Terror-Gesetz angeklagt und befinden sich seit über zwei Jahren in Untersuchungshaft. Gesetze, die verschiedene Formen der „Aufwiegelung“ unter Strafe stellen, sowie weitere Gesetze zur nationalen Sicherheit werden routinemäßig gegen Menschenrechtsverteidiger_innen und Demonstrant_innen eingesetzt. Dies erzeugt ein Klima der Angst und hält viele davon ab, sich für die Menschenrechte einzusetzen.
Es werden aber nicht nur Einzelpersonen ins Visier genommen, sondern auch Organisationen, die sich für die Menschenrechte einsetzen oder die mit internationalen Institutionen zusammenarbeiten. Die immer strengeren Bestimmungen des Gesetzes zum Empfang ausländischer Gelder (Foreign Contribution Regulation Act, FCRA) ermöglichen es, unliebsamen Organisationen bürokratische Hürden in den Weg zu stellen. Wird ihnen der Zugang zu ausländischen Finanzmitteln verweigert, kommt ihre Arbeit zum Erliegen. Dies betrifft indische Organisationen, aber auch in Indien arbeitende internationale Organisationen wie Amnesty International, Greenpeace oder Oxfam. Besonders die jüngsten FCRA-Änderungen im Jahr 2020 erschweren es vielen Organisationen, ihre Arbeit im Bereich der Menschenrechte, aber auch für soziale Entwicklungsprojekte fortzusetzen. Aktuell warten tausende Organisationen auf die notwendige Erneuerung ihrer Registrierung nach den Regeln des Gesetzes zum Empfang ausländischer Gelder.
Die Regierungspartei BJP hat in diesem Jahr die Chance, auch im indischen Oberhaus eine absolute Mehrheit zu gewinnen. Beobachter_innen gehen davon aus, dass dann mögliche Verfassungsänderungen die Grundrechte weiter einschränken könnten. Dies würde nicht nur die wenigen noch intakten demokratischen Strukturen gefährden, sondern auch die soziale Entwicklung im zweitbevölkerungsreichsten Land der Erde weiter ausbremsen. Für zivilgesellschaftliche Akteur_innen, die sich dafür einsetzen, allen Menschen in Indien eine Stimme und gleiche Chancen zu geben, droht die Situation immer schwieriger zu werden.
Der Autor ist Experte der internationalen Entwicklungszusammenarbeit mit Indien und Mitarbeiter einer VENRO-Mitgliedsorganisation. Aus Sicherheitsgründen möchte er anonym bleiben.