Politik

Raus aus der Defensive: Wir brauchen neue Impulse für den Schutz humanitärer Helfer_innen

Verteilung humanitärer Hilfsgüter nach einem Erdbeben in Sulawesi, Indonesien

Das humanitäre Völkerrecht garantiert den Schutz humanitärer Helfer_innen. Dennoch werden viele Grundsätze missachtet: Humanitäre Helfer_innen werden immer öfter Opfer gezielter Angriffe, ihre Handlungsräume zunehmend eingeschränkt. Höchste Zeit, diesen Trend umzukehren.

Laut aktuellen Schätzung der Vereinten Nationen (UN) benötigen in diesem Jahr mehr als 235 Millionen Menschen auf der ganzen Welt lebensnotwendige humanitäre Hilfe. Dies ist ein Anstieg um 40 Prozent im Vergleich zum vergangenen Jahr. Zudem erleben wir – aufgrund der Corona-Pandemie – erstmals seit vielen Jahren einen Anstieg extremer Armut weltweit. Diese Zahlen sind erschreckend und zeigen, dass humanitäre Hilfe auch weiterhin eine wichtige Rolle für die Versorgung von Menschen in Notlagen spielt. Dafür ist es dringend erforderlich, dass humanitäre Hilfsprogramme ungehindert umgesetzt werden können.

Die Gefahr für Humanitäre Helfer_innen nimmt zu

Es verlangt großen persönlichen Einsatz, um, allen Gefahren zum Trotz, humanitäres Leid auf der ganzen Welt zu mindern. Ob nach Naturkatastrophen wie den Tropenstürmen Eta und Iota in Mittelamerika oder in Krisengebieten wie Syrien und Jemen – das Risiko für humanitäre Helfer_innen, selbst verletzt zu werden, wächst zunehmend. Gezielte Angriffe auf humanitäres Personal und humanitäre Einrichtungen haben sich in den letzten 20 Jahren vervielfacht. Allein im Jahr 2019 wurden 277 schwere Vorfälle, etwa Tötungen oder Entführungen, mit 483 betroffenen humanitären Helfer_innen dokumentiert. Lokale Helfer_innen sind dabei besonders stark betroffen. Bisher werden die Verantwortlichen solcher Angriffe jedoch nur selten zur Rechenschaft gezogen und müssen kaum politische Folgen befürchten. Dies muss sich ändern.

Diese Entwicklung ist ein Indikator für eine andere alarmierende Beobachtung: Der Handlungsraum für humanitäre Organisationen wird weltweit immer weiter eingeschränkt. Organisationen können ihre Arbeit oftmals nicht ungehindert und in einem sicheren Umfeld leisten und verlieren den Zugang zu denjenigen, denen sie helfen sollen.

Ein noch immer viel diskutiertes Beispiel sind internationale wie nationale Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung. Die restriktiven Anti-Terror-Gesetze und -Sanktionen zielen darauf ab, die Unterstützung und Finanzierung von Terrorismus zu unterbinden. Gleichzeitig schaffen sie jedoch Sicherheits- und Rechtsrisiken für humanitäre Organisationen. Beispielsweise werden bestimmte Hilfsleistungen kriminalisiert oder Verhandlungen mit nicht-staatlichen bewaffneten Gruppen, die als terroristisch eingestuft werden, über den Zugang zu von ihnen kontrollierten Gebieten untersagt. Durch immer strengere Regeln im Finanzsektor wollen auch Banken zunehmend Risiken vermeiden und Geldüberweisungen in Krisengebiete werden verzögert oder gar unmöglich. Dadurch wird die Bereitstellung humanitärer Hilfe stark beeinträchtigt.

Die Achtung des humanitären Völkerrechts ist der Schlüssel

Das humanitäre Völkerrecht und die humanitären Prinzipien – Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Neutralität und Unabhängigkeit – garantieren, unter anderem, den Schutz humanitärer Helfer_innen. Dennoch werden diese Grundsätze vielfach in Frage gestellt und missachtet. Es ist Aufgabe und Verpflichtung der internationalen Gemeinschaft, für ihre Einhaltung zu sorgen, humanitäre Helfer_innen weltweit zu schützen und ihren Handlungsraum zu erhalten. Hierfür braucht es aktive Fürsprecher_innen auf internationaler Ebene.

Gemeinsam haben Deutschland und Frankreich 2019 den „Humanitarian Call for Action“ initiiert. Der Call for Action ist eine wichtige internationale Initiative mit dem Ziel, humanitäres Völkerrecht zu stärken und humanitärer Helfer_innen besser zu schützen. Allerdings fehlen noch konkrete Maßnahmen, um den Call for Action umzusetzen und spürbare Verbesserungen zu erreichen.

Deutsch-französische Impulse für den Schutz humanitärer Helfer_innen

Deutschland und Frankreich sind starke Verfechter des Multilateralismus und kooperieren bei vielen Themen strategisch miteinander. Für den Schutz humanitärer Helfer_innen sind international abgestimmte Anstrengungen unabdingbar. Deutschland und Frankreich sollten hier Verantwortung übernehmen und, vor allem bei der Umsetzung des „Humanitarian Call for Action“, ihre Zusammenarbeit fortsetzen. Denn hier kann der deutsch-französische Motor im multilateralen System echte Fortschritte erzielen. Hierfür ließe sich beispielsweise der französische Vorsitz im UN-Sicherheitsrat im Juli 2021 nutzen.

Ein enger Austausch zwischen deutschen und französischen Nichtregierungsorganisationen (NRO) kann die Zusammenarbeit auf Regierungsebene unterstützen. Zudem können gemeinsam Forderungen gegenüber den Regierungen effektiver vorangebracht werden. Zu diesem Zweck führten VENRO und das französische NRO-Bündnis Coordination Sud in den vergangenen Monaten mehrere Gespräche. Gemeinsam wurden im Vorfeld der Nationalen Humanitären Konferenz, die am 17. Dezember 2020 in Frankreich stattfand, die Konferenzthemen diskutiert: Der Schutz humanitärer Helfer_innen, der schrumpfende Handlungsraum humanitärer Organisationen sowie die Auswirkungen der Terrorismusbekämpfung auf humanitäre Hilfe. Zudem wurden mögliche gemeinsame Empfehlungen für die deutsche und die französische Regierung abgestimmt – beispielsweise die Einrichtung einer Gemeinsamen Kommission zur Umsetzung des „Humanitarian Call for Action“.

Während der Abschlussveranstaltung der Nationalen Humanitären Konferenz trug Coordination Sud seine Erwartungen dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron vor. Unter anderem verwies Coordination Sud auf die Gemeinsame Kommission zur Umsetzung des „Humanitarian Call for Action“. In seiner Schlussrede machte Präsident Macron verschiedene Zusagen, unter anderem signalisierte er Bereitschaft für die Einrichtung dieser Gemeinsamen Kommission. Die Bundesregierung sollte sich an der Einrichtung der Kommission aktiv beteiligen.

Diese und weitere Empfehlungen von VENRO können Sie in der Stellungnahme „Raus aus der Defensive – Humanitäres Völkerrecht stärken und humanitäre Helfer_innen weltweit schützen“ nachlesen. Die Stellungnahme greift die gemeinsamen Überlegungen mit Coordination Sud auf und ist auch auf Englisch verfügbar.