Politik

European Humanitarian Forum 2025: Die großen Fragen bleiben ungelöst

Auf dem European Humanitarian Forum (EHF) am 19. und 20. Mai in Brüssel wurden die immensen Herausforderungen für die humanitäre Hilfe deutlich – die steigende Zahl langfristiger humanitärer Krisen steht einer dramatischen Finanzierungs- und Legitimationskrise gegenüber. Das EHF bot einen dringend notwendigen Raum für den Austausch über transformative Lösungsansätze. Diese Chance hätte jedoch besser genutzt werden müssen.

Erneut kamen beim EHF in Brüssel Expert_innen aus Politik, Zivilgesellschaft, internationalen Organisationen und Wissenschaft zusammen. Im Fokus standen in diesem Jahr zwei zentrale Themen: Ein integrierter Ansatz zur Bewältigung von Fragilität sowie die Rolle humanitärer Diplomatie. Diese Schwerpunkte – und auch die anderen krisenspezifischen oder thematischen Formate im Programm des EHF – sind zweifellos relevant. Der sprichwörtliche „Elefant im Raum“, die existenzielle Gefährdung des globalen humanitären Systems, wurde jedoch kaum substanziell thematisiert.

Der Elefant im Raum

Die Zukunft des internationalen humanitären Systems in seiner bisherigen Form ist unsicherer denn je, denn die Entscheidung der USA, bislang größter humanitärer Geber weltweit, ihre Mittel deutlich zu kürzen, hat gravierende Konsequenzen – für das Überleben von Menschen in Not, die Handlungsfähigkeit lokaler, nationaler und internationaler Hilfsorganisationen sowie für das überwiegend UN-basierte System humanitärer Koordination. Gleichzeitig geraten immer mehr Menschen in Not, humanitäre Krisen werden immer vielschichtiger und langanhaltender. Hinzu kommt ein wachsender Mangel an Respekt für humanitäres Völkerrecht und die humanitären Prinzipien. In einer Welt geopolitischer Umbrüche und zunehmendem Nationalismus droht eine stärkere Politisierung der Hilfe.

Gerade in dieser Phase globaler Unsicherheit hätte das EHF seinen Fokus stärker auf diese grundlegenden Zukunftsfragen richten müssen. Zwar stellte der UN-Nothilfekommissar Tom Fletcher seinen Plan für einen „Humanitarian Reset“ vor – und kaum eine Diskussion kam ohne Hinweise auf notwendige Reformen im System aus (Stichworte: mehr Effizienz, mehr Wirkung). Doch wie so oft steckt der Teufel im Detail: Was genau beinhaltet dieser Reset? Wie ist der Zeitplan, wer wird wann eingebunden? Wie gehen wir mit der klaffenden Lücke zwischen menschlicher Not und vorhandenen finanziellen Mitteln um? Wie kann eine echte Transformation gelingen? Welche Hürden müssen dabei genommen werden? Was bedeutet das für die verschiedenen Akteur_innen? (Und welche Organisationen werden vielleicht im kommenden Jahr nicht mehr beim EHF vertreten sein, weil sie dann nicht mehr existieren?)

Bald nur noch „lebensrettende“ Hilfe?

Ein zentraler Punkt des geplanten Reset ist die Fokussierung auf „life-saving assistance“ – lebensrettende Hilfe also – als Antwort auf die schrumpfenden Ressourcen. Diese Priorisierung war auch auf dem EHF vielfach Thema und löste bei vielen Anwesenden große Besorgnis aus. Denn was bedeutet „lebensrettend“ konkret, wer definiert das? Zählen vorausschauende Ansätze in der humanitären Hilfe dazu?  Bildung für Kinder in Krisenregionen? Die Instandsetzung von Wasser- und Abwassersystemen? Zynisch formuliert: Helfen wir künftig nur noch Menschen, denen der Tod in ein, drei oder zehn Tagen droht, und lassen alle anderen zurück? Denn auch wenn bestimmte Bedarfe nicht als „lebensrettend“ gelten, bleibt das dahinterstehende menschliche Leid bestehen. Wer kümmert sich dann um diese Bedarfe?

Wie viele Menschen können künftig überhaupt noch erreicht werden? Fletcher sprach davon, realistisch für 100 Millionen Menschen pro Jahr „lebensrettende“ Hilfe bereitstellen zu können. Doch 2024 waren laut UN rund 325 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen, tatsächlich erreicht wurden jedoch nur etwa 116 Millionen Menschen. Und das war noch vor den drastischen Mittelkürzungen durch die USA und andere Geberländer. Das zeichnet ein düsteres Bild für die kommenden Jahre.

Rettung durch integrierte Ansätze für Fragilität und Resilienzstärkung?

Eine mögliche Lösung liegt im sogenannten „Humanitarian-Development-Peace-Nexus“ – also der besseren Verzahnung von humanitärer Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit und Friedensförderung. Dieser Gedanke ist nicht neu, doch in fragilen Kontexten weiterhin zentral – wie auch auf dem EHF immer wieder betont wurde. Durch kohärentere Zusammenarbeit könnten Ursachen von Krisen besser adressiert, nachhaltigere Lösungen für Konflikte und humanitäre Notlagen gefördert und die Resilienz betroffener Gemeinden gestärkt werden. Voraussetzung ist allerdings, institutionelle Silos zu überwinden und die Realität vor Ort in den Mittelpunkt zu rücken.

Dennoch wäre es zu kurz gedacht, anzunehmen, dass sich humanitäre Hilfe künftig auf das „Lebensrettende“ beschränkt und alle anderen Bedarfe durch Entwicklungs- und Friedensakteur_innen abgedeckt werden können. Denn auch diese Sektoren sehen sich mit massiven Kürzungen konfrontiert. Wir können also nicht nur das Narrativ ändern, welche Akteur_innen sich um welche Art von Bedarfen kümmern sollten – es braucht strukturelle Reformen.

Die Rolle von lokalen Akteur_innen und Betroffenen

In nahezu jedem Panel und jedem Humanitarian Talk des EHF waren sie – zumindest rhetorisch – präsent: lokale Akteur_innen und Betroffene humanitärer Krisen. Einigkeit bestand darüber, dass ihre stärkere Einbindung essenziell ist. Die letzte Konsequenz hat dennoch gefehlt: Beispielsweise wurde in einem Talk zu Vulnerabilität und Resilienz wiederholt ein „people-centered approach“ angemahnt – aber ein Platz auf der Bühne für eine_n lokale_n Akteur_in wurde offenbar nicht vorgesehen.

Die Lokalisierungsagenda gilt spätestens seit dem Humanitären Weltgipfel 2016 als wesentliche Säule humanitärer Reformen. Auch im Humanitarian Reset spielt sie eine prominente Rolle. Lokale Akteur_innen gelten als effizienter und kostengünstiger – ein Vorteil, der angesichts gekürzter Mittel verlockend klingt. Doch es ist illusionär, zu erwarten, dass lokale Organisationen mit massiv reduzierten Ressourcen noch mehr leisten könnten. Stattdessen braucht es eine echte Machtverschiebung: Internationale Akteur_innen müssen Ressourcen, Kontrolle und Entscheidungsbefugnisse abgeben, um gleichberechtigte Partnerschaften zu ermöglichen. Und: Lokale Akteur_innen sowie Betroffene müssen aktiv an der Gestaltung der künftigen Struktur des humanitären Systems mitwirken können.

Glaubwürdiges Eintreten für humanitäres Völkerrecht und humanitäre Hilfe

„We do not only fail because of funding cuts, but because we are not there, because we are denied access.” So brachte es Jan Egeland, Chef der Hilfsorganisation NRC, beim EHF auf den Punkt. Neben finanziellen Engpässen erschweren systematische Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht – ob in Gaza, der Ukraine, dem Sudan oder Myanmar – den Zugang zu Menschen in Not. Doch die meisten Verstöße bleiben ungeahndet. In diesem viel zitierten „Zeitalter der Straflosigkeit“ braucht es mehr denn je eine starke humanitäre Diplomatie. Das heißt: Staaten und politische Akteur_innen wie die EU müssen sämtliche diplomatische Kanäle und politische Hebel nutzen, um Zugang zu ermöglichen, die Einhaltung des humanitären Völkerrechts und den Schutz humanitärer Helfer_innen von allen Konfliktparteien einzufordern und Konflikte beenden helfen.

Zwar bestand beim EHF breiter Konsens zur Bedeutung des Völkerrechts, doch ebenso klar war: Es darf keine Doppelmoral geben. Die Glaubwürdigkeit der internationalen Gemeinschaft leidet, wenn sie bei ähnlichen Krisen unterschiedlich reagiert. Der kontrastierende Umgang mit der Ukraine und Gaza wurde mehrfach als Beispiel genannt.

Es braucht eine konsistente Haltung der EU und ihrer Mitgliedstaaten gegenüber allen Verletzungen des humanitären Völkerrechts – unabhängig vom Kontext.

Die Hoffnung stirbt zuletzt

Ein großer gemeinsamer Aufbruch blieb also aus. Doch die wiederholten Bekräftigungen „We will stay engaged!“ und „We will step up!“ lassen zumindest Hoffnung aufkeimen. Vor allem Vertreter_innen der EU und ihrer Mitgliedstaaten setzten so immer wieder wichtige Zeichen für Menschlichkeit und internationalen Solidarität. Jetzt müssen sie zeigen, dass sie es ernst meinen. Denn aktuell kürzen auch viele europäische Länder ihre humanitäre Hilfe anstatt sie aufzustocken. Aber Engagement braucht Ressourcen. Lippenbekenntnisse helfen niemandem. In den kommenden Haushaltsverhandlungen wird sich zeigen, ob die neue deutsche Regierung ihrer internationalen Verantwortung gerecht wird – und bereit ist, eine führende Rolle als Gestalterin und Geberin im humanitären System einzunehmen.

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