Nein heißt nein, jederzeit und überall: Nichtregierungsorganisationen tragen die Verantwortung, Mitarbeitende und Zielgruppen vor sexualisierter Gewalt und Ausbeutung zu schützen. Wie können NRO Hinweisen und Verdachtsfällen effektiv nachgehen? Welche Maßnahmen haben sich bei unseren Mitgliedern bewährt? In unserer Handreichung geben wir praxisnahe Antworten.
Sexualisierte Gewalt und Ausbeutung sind eine Form der Gewaltausübung, die besondere Abscheu und Erschrecken hervorruft. Die Verletzungen für die Betroffenen/Überlebenden sind nicht nur körperlicher, sondern auch seelischer Art. Oft prägen diese Traumata ein Leben lang.
Nicht zuletzt die #MeToo-Debatte hat uns allen vor Augen geführt, dass sexuelle Belästigung und sexualisierte Gewalt insbesondere gegen Frauen leider immer noch alltäglich sind. So abscheulich und zerstörerisch jeder einzelne Vorfall und jede unangemessene Grenzüberschreitung sind – es ist besonders empörend, wenn es im Kontext einer Hilfsorganisation passiert. Die Anfang 2018 bekanntgewordenen Fälle sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch in entwicklungspolitischen Nichtregierungsorganisationen (NRO) und in staatlichen Durchführungsorganisationen haben uns deshalb besonders erschüttert und betroffen gemacht.
Alle Organisationen tragen die Verantwortung, die Menschen mit denen und für die sie arbeiten – Mitarbeitende, Ehrenamtliche, Zielgruppen – vor sexualisierter Gewalt und Ausbeutung zu schützen. Organisationen, die sich für Menschenrechte und für globale Gerechtigkeit einsetzen, tragen eine besondere Verantwortung, ihren eigenen Maßstäben gerecht zu werden.
Als Verband haben wir auf die Vorfälle des Jahres 2018 schnell und umfangreich reagiert. Gemeinsam mit unseren Mitgliedsorganisationen haben wir Standards entwickelt, um den Schutz vor sexualisierter Gewalt und Ausbeutung zu verbessern und zu stärken. Die VENRO-Mitglieder verpflichten sich, geeignete Maßnahmen zum Schutz vor sexualisierter Gewalt und Ausbeutung zu ergreifen (das sog. Safeguarding) sowie in ihren Organisationen ein Umfeld zu schaffen, in dem Missbrauch von anvertrauter Macht effektiv vorgebeugt wird. Im Verhaltenskodex zu Transparenz, Organisationsführung und Kontrolle sowie im Kodex zu Kinderrechten haben wir dies verbindlich festgelegt.
Was heißt das konkret?
Richtlinien, Organisationsstrukturen und Prozesse müssen überprüft und angepasst werden, damit ethische und professionelle Grundsätze überall eingehalten werden. Hierbei kommt der Prävention eine wichtige Rolle zu. Vorbeugend tätig zu werden heißt, Risiken für alle Bereiche der Organisation zu analysieren und diesen mit geeigneten Maßnahmen zu begegnen.
Vorbeugend tätig zu werden heißt aber vor allem, Wissen über sexualisierte Gewalt zu vermitteln, eine gelebte Kultur der Achtsamkeit zu stärken und einen respektvollen, grenzachtenden Umgang miteinander weiterzuentwickeln. Hier liegt eine besondere Herausforderung, denn die Ursachen für sexualisierte Gewalt und Ausbeutung sind häufig in der Organisationskultur und den Machtstrukturen verwurzelt. Diese zu ändern ist schwierig, unbequem und nur durch langfristiges Umdenken möglich. Welche Faktoren in unserem Umfeld begünstigen sexuelle Belästigung, Übergriffe und Gewalt? Welche Machtasymmetrien gibt es und wie wird mit ihnen umgegangen? Wie schaffen wir ein Miteinander, das von Offenheit und Vertrauen geprägt ist? Dies braucht Zeit, eine ehrliche und offene Debatte und besonders Ownership at the top, also ein uneingeschränktes Bekenntnis der Führungskräfte.
Punktuell stattfindende Präventionsangebote sollten in eine Gesamtstrategie für Schutzmaßnahmen der Organisation eingebettet sein und durch die Förderung einer offenen, wertebasierten Organisationskultur gestützt und institutionell verankert werden.
Leider können Machtmissbrauch und Fehlverhalten Einzelner wohl trotz des besten Schutzkonzepts nie ganz ausgeschlossen werden. In diesem Fall stehen der Schutz und die Unterstützung von Betroffenen an oberster Stelle. Hinweisgebersysteme spielen hier eine wichtige Rolle. Diese sollten für jede_n zugänglich sein und einen verlässlichen, geschützten und vertrauenswürdigen Umgang mit Hinweisen ermöglichen. Vorfälle sollten sensibel behandelt und transparent aufgearbeitet werden. Dies ermöglicht es NRO, Verantwortung zu übernehmen und aus Hinweisen und Fällen zu lernen, um organisationale Strukturen zu hinterfragen und die Schutzkonzepte stetig zu verbessern.
Wie unterstützt VENRO?
In der Debatte wurde deutlich, wie wichtig es neben der Erarbeitung gemeinsamer Standards ist, Erfahrungen und gute Praxisbeispiele zu teilen. Um NRO dabei zu unterstützen, die gemeinsamen Standards umzusetzen und ihre Schutz- und Präventionsarbeit zu stärken, bieten wir deshalb qualifizierende Fortbildungen und Webinare an und fördern den Erfahrungsaustausch von NRO. In unserer Good-Practice-Bibliothek stellen wir gute Umsetzungsbeispiele und Hintergrundinformationen aus anderen Organisationen zur Verfügung.
Ein Ergebnis der Fortbildungen und des Austausches mit Mitgliedsorganisationen ist die Handreichung „Schutz vor sexualisierter Gewalt und Ausbeutung in der Entwicklungszusammenarbeit und Humanitären Hilfe“, die wir nun veröffentlicht haben. Sie richtet sich an Mitarbeitende und Führungskräfte in NRO, die mit dem Aufbau, der Weiterentwicklung oder der Umsetzung von Schutzkonzepten befasst sind. Die Handreichung gibt Anregungen und zeigt anhand von Praxisbeispielen, wie NRO Risiken sexualisierter Gewalt und Ausbeutung erkennen und diesen begegnen können. Sie stellt Präventionsmaßnahmen vor, die sich im Personalmanagement und in der Projekt- und Programmarbeit gemeinsam mit Partnerorganisationen bewährt haben. Darüber hinaus enthält die Handreichung Hinweise, wie wirksame Beschwerdemechanismen eingerichtet werden und wie ein effektives Fallmanagement durchgeführt wird.
Mehr Informationen finden Sie auf unserer Themenseite Safeguarding.
Katharina Stahlecker | VENRO (bis März 2022) |