Das Entwicklungsnarrativ ist kolonialrassistisch geprägt, es formte Jahrzehnte lang die Welt, in der wir leben, als eine Kontinuität kolonialer Ausbeutungsprozesse. Das Narrativ manifestiert sich auch in Menschen. Sie werden nicht nur rassifiziert, sondern auch vergeschlechtlicht. Eine emanzipatorische Transformation der Entwicklungszusammenarbeit muss unter anderem feministisch sein. Denn eine Welt, in der jede Person ihr Recht auf ein würdiges und selbstbestimmtes Leben verwirklichen kann, kann nur solidarisch und dekolonial trans- und international gestaltet werden.
Entwicklungspolitische Vorhaben müssen die Verwobenheit von Patriarchat, Kapitalismus und Neokolonialismus in den Blick nehmen, um einen emanzipatorischen feministischen Anspruch gerecht zu werden. Außerdem sollte sich Entwicklungspolitik nicht mehr nur auf Maßnahmen im Globalen Süden konzentrieren, sondern ebenso unsere Lebensweisen im Globalen Norden in den Blick nehmen. Denn die imperiale Lebensweise und das wirtschaftliche Wachstumsparadigma hängen untrennbar zusammen mit Ausbeutung, Klimaungerechtigkeit und der Aufrechterhaltung globaler patriarchaler und rassistischer Strukturen. Dabei sind Nord und Süd keine fixen Kategorien. Die postkoloniale Denkerin Chandra T. Mohanty beschreibt, wie der Globale Norden auch im Süden zu finden ist und andersherum. Eine imperiale Lebensweise der Minderheit der Welt, die Mohanty „Ein-Drittel-Welt“ nennt, kombiniert mit einem Wachstumsmodell, das autoritär und unterdrückend auch in den sogenannten Schwellenländern agiert, innerhalb eines internationalen Systems, in dem Entwicklungszusammenarbeit zu wenig an den Strukturen und Machungleichheiten ändert, beschreibt die Schieflage der Welt.
Es braucht eine radikalere Form internationaler Zusammenarbeit
Eine Perspektive, die das Lokale und das Globale zusammendenkt, ist eine, die wir dringend brauchen. Eine immer noch mehrheitlich bilateral gedachte Entwicklungszusammenarbeit ist nicht mehr die zeitgemäße Antwort. Ohne eine umfassende Adressierung von Ungleichheit und radikales Aufbrechen rassistischer und neokolonialer Strukturen werden Abhängigkeiten und Machtungleichheiten weiter verfestigt und nur die Symptome der aktuellen Krisen gelindert. Es braucht eine radikalere Form von internationaler Zusammenarbeit, die nicht nur Symptome, sondern zugleich auch die Ursachen der multidimensionalen Krisen bekämpft: eine transnationale Solidarität.
Aber inwieweit lässt sich transnationale Solidarität in einem System der Entwicklungszusammenarbeit etablieren, das selbst paternalistisch, kapitalistisch und mit einer eurozentristischen Vorstellung von Modernität agiert?
Um die Entwicklungszusammenarbeit so weiterzuentwickeln, dass sie als global solidarische Praktik funktioniert, braucht es die gleichwertige Beteiligung von Menschen mit unterschiedlichen Perspektiven auf die Welt. Denn transnationale Solidarität funktioniert nicht nur von Norden nach Süden. Das Verhältnis von Globalem Norden und Süden muss neu gedacht und historische und aktuelle Ausbeutungserfahrungen sichtbar gemacht werden.
Solidarität heißt, lokale, nationale und globale Kämpfe zusammenzudenken und miteinander zu verbinden. Es braucht strukturelle Veränderungen und insbesondere einen gleichberechtigten Zugang für alle Menschen zu multilateralen Institutionen und Politikprozessen, zu globalen Märkten und finanziellen Ressourcen.
Kurzfristig müssen aktuelle entwicklungspolitische Verhältnisse und Strukturen umgebaut, langfristig sogar abgeschafft werden. Denn eine reformistische Entwicklungszusammenarbeit, die Missverhältnisse und Schieflagen befestigt und verschönert, ist nicht zukunftstragend. Vor allem vor den sich jetzt anhäufenden Poly- und Synkrisen braucht es eine feministische und dekoloniale Solidarität, die strukturelle Ungleichheiten umfassend und auf unterschiedlichen Handlungsebenen bekämpft.
Radwa Khaled-Ibrahim | medico international |