Politik

„Die Beschäftigung mit den Folgen des Kolonialismus ist einfach fällig“

Katja Dombrowski, Autorin des NRO-Reports „Shifting Power“, hat im Zuge ihrer Recherchen viele Mitarbeitende unserer Mitgliedsorganisationen dazu befragt, wie sie mit den Themen Dekolonisierung, Partnerschaftlichkeit und Rassismus umgehen. Im Interview berichtet sie darüber, was ihr bei den Recherchen begegnet ist und welche Erkenntnisse sie aus den ganz unterschiedlichen Gesprächen mitgenommen hat.

Katja Dombrowski, warum setzen sich entwicklungspolitische und humanitäre Organisationen mit kolonialen Kontinuitäten auseinander?

Ich denke, die Beschäftigung mit den Folgen des Kolonialismus ist einfach fällig, man kommt nicht mehr darum herum. In anderen Ländern gibt es schon länger Debatten um dieses Thema, gesamtgesellschaftlich wie auch in entwicklungspolitischen und humanitären Kreisen. In Deutschland haben wir eher etwas hinterher gehinkt. Womit ich nicht sagen will, dass die Auseinandersetzung mit kolonialen Kontinuitäten in deutschen entwicklungspolitischen und humanitären Organisationen neu sei – es gibt Organisationen, die das Thema schon seit Jahrzehnten umtreibt. Manche entsenden deshalb zum Beispiel schon lange bewusst kein Personal mehr in den Globalen Süden oder haben das noch nie getan.

Mein Eindruck ist aber, dass die Problematik in den vergangenen Jahren in der deutschen Öffentlichkeit angekommen ist. Die Beschäftigung mit Rassismus und seinen Wurzeln etwa hat durch die Black-Lives-Matter-Bewegung aus den USA starken Auftrieb erhalten. Die breit in Medien, Kultur und Wissenschaft geführten Diskussionen um Sammlungsobjekte im Humboldt-Forum, Stichwort „Raubkunst“, sind ein Beleg dafür, dass die Folgen des Kolonialismus anerkannt und ernst genommen werden. Die Rückgabe der Benin-Bronzen startete Ende 2022 mit dem Besuch von zwei deutschen Ministerinnen in Nigeria und entsprechend viel medialer Aufmerksamkeit. Die koloniale Geschichte ist kein Randthema mehr. Deutschland geht das jetzt an – auch wenn manch eine_r sich mehr Tempo, mehr Entschlossenheit und mehr konkrete Maßnahmen wünscht.

Auf die Frage, warum sich entwicklungspolitische und humanitäre Organisationen mit kolonialen Kontinuitäten auseinandersetzen, gibt es sicherlich eine ganze Reihe von Antworten. Eine liegt auf der Hand: Die Entwicklungszusammenarbeit ist selbst ein Erbe des Kolonialismus und mit dessen Folgen systemisch verbunden.

Wodurch zeichnet sich eine dekoloniale Arbeit von NRO aus, die mit Partnerorganisationen im Globalen Süden zusammenarbeiten?

Bei meinen Recherchen für den NRO-Report habe ich festgestellt, dass die meisten Organisationen bei sich selbst beginnen, und das halte ich auch für einen guten Ansatz. Menschen, die in der Entwicklungszusammenarbeit und humanitären Hilfe arbeiten, und da schließe ich mich selbst mit ein, halten sich doch in der Regel für explizit antirassistisch und antipaternalistisch. Niemand will koloniale Machtstrukturen fortsetzen, jede_r auf Augenhöhe mit Partner_innen im Globalen Süden zusammenarbeiten und voneinander lernen. Dafür, wie Geld und Macht in der Zusammenarbeit verteilt sind, dass etwa häufig Entscheidungsprozesse viel mehr aus der Zentrale heraus als von Partnerorganisationen gesteuert werden oder viele NRO in Deutschland fast ausschließlich weiße Mitarbeitende haben, muss erst einmal intern Bewusstsein geschaffen werden. Manche Organisationen starten mit Antirassismus-Trainings oder versuchen diverser zu werden, indem sie beispielsweise Barrieren für nicht deutschsprachige Bewerber_innen abbauen. Andere schaffen mehr Mitbestimmung für Partner_innen im Globalen Süden, sei es bei der Auswahl von Personal oder der Verwendung von Geldern. Für einige NRO bedeutet dekoloniale Arbeit auch, grundsätzlich nur mit Südfachkräften zu arbeiten oder Institutionsaufbau und wirtschaftliche Unabhängigkeit der Partnerorganisationen – auch in finanzieller Hinsicht – in den Vordergrund der Kooperation zu stellen. Der Report trägt vielfältige Beispiele aus den sehr unterschiedlichen Mitgliedsorganisationen von VENRO zusammen.

Was sind gute Ansätze, um Organisationen im Globalen Süden mehr Mitbestimmung in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit zu ermöglichen?

Geld und Macht hängen ja oft eng zusammen, da ist die Entwicklungszusammenarbeit keine Ausnahme. Ich halte die Hoheit über die Verwendung der finanziellen Mittel daher für einen wichtigen Punkt. Wie stark ist sie von Geberseite aus vorgegeben? Inwieweit können die Partnerorganisationen im Globalen Süden selbst darüber bestimmen und zum Beispiel kurzfristig auftretende Bedarfe decken oder jenseits von Projektlogiken agieren? Eine unabhängigere Mittelverwendung kann viel dazu beitragen, Abhängigkeiten und Machtgefälle zu reduzieren. Das Gleiche gilt für die inhaltliche Schwerpunktsetzung. Wenn die deutsche Entwicklungspolitik gerade bestimmte Themen vorantreiben will, sei es feministische Entwicklungszusammenarbeit oder Klimaschutz, wie eng ist dann der Rahmen für die Partner_innen? Ich arbeite selbst zurzeit in einem BMZ-finanzierten Projekt und finde es legitim, dass Deutschland Vorhaben gemäß seiner eigenen Werte und Ziele fördert. Aber rein durch die dekoloniale Brille betrachtet ergeben sich für mich Fragezeichen. Wenn die Frage nach mehr Mitbestimmung auf die politische Ebene abzielt: Da wünschen sich manche Akteur_innen aus dem Globalen Süden, frühzeitig und stärker in Strategieentwicklung oder Gesetzgebung eingebunden zu werden. Ein Beispiel ist das deutsche Lieferkettengesetz: Diejenigen, für die es gemacht wurde, also deren Menschenrechte damit geschützt werden sollen, wurden meines Wissens eher wenig gehört.

Welche Bedeutung kommt der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit in Deutschland zu, um postkoloniale Kontinuitäten zu überwinden?

Ich bin mir nicht sicher, wie viele Menschen die entwicklungspolitische Bildungsarbeit erreicht. Mein Eindruck ist, dass es relativ wenige sind – gemessen am riesigen Bedarf. Den meisten Deutschen ist bestimmt nicht bewusst, wie stark ihr Wohlstand mit dem Kolonialismus und seinen bis heute wirkenden Folgen zusammenhängt, was ihr unbedachter und oft maßloser Konsum in anderen Ländern anrichtet und wieviel Ungerechtigkeit zum Beispiel in der globalen Verteilung der Ressourcennutzung liegt. Bildungsarbeit kann dazu beitragen, dass mehr Menschen diese Zusammenhänge verstehen und „Entwicklung“ nicht als etwas betrachten, das nur in fernen Ländern geschehen muss, sondern auch hier bei uns. Dass es sie persönlich etwas angeht und sie Verantwortung tragen. Diese Einsicht zu verbreiten, gehört auch zur Dekolonisierung von Entwicklungszusammenarbeit.

Was hat Sie bei Ihren Recherchen besonders überrascht?

Mir war nicht klar, wie viele Initiativen es aus dem Globalen Süden heraus gibt, um Dekolonisierung voranzutreiben. Dass Veränderungsdruck aus Ländern kommt, die einst europäische Kolonien waren und in denen der Kolonialismus stark nachwirkt, finde ich gut. Ihre Forderungen nach Machtverschiebung in der humanitären und Entwicklungszusammenarbeit, nach strategischer und systemischer Veränderung, nach dem Ende der „Weißen Retter“ sind berechtigt. Wir müssen darauf reagieren.


Katja Dombrowski ist Journalistin und Autorin und arbeitet zurzeit als Medienfachkraft des Weltfriedensdienstes im Programm Ziviler Friedensdienst in Bolivien.

Den NRO-Report „Shifting Power“ finden Sie unter www.venro.org/publikationen zum Download. Druckexpemplare können bestellt werden unter publikationen@venro.org.