Bisher waren viele Konzepte der zivilen Konfliktbearbeitung vor allem auf innerstaatliche Konflikte fokussiert. Der Krieg in der Ukraine hat das verändert. Welche Folgen hat die kriegerische Eskalation für die Arbeit der dort aktiven Nichtregierungsorganisationen (NRO)? Und wie können sie mitten im Krieg zur Friedensförderung beitragen? Darüber sprechen Christoph Bals, politischer Geschäftsführer von Germanwatch, David El Haidag, Programmmanagement und Koordination Ukraine von Help – Hilfe zur Selbsthilfe, Sebastian Hundt und Maria Tuzani, Geschäftsführer und Koordinatorin der Ukraine-Arbeit von Eine Welt Leipzig im Interview.
Herr Bals, die Ukraine befindet sich mitten im Krieg, und Germanwatch beschäftigt sich jetzt schon mit der Frage, wie ein künftiger Wiederaufbau aussehen könnte. Auf welcher Basis kann man darüber zum gegenwärtigen Zeitpunkt überhaupt sprechen?
Bals: Das ist natürlich mit einer ungeheuren Unsicherheit darüber verbunden, wie es weitergeht und wann man mit einem wirklich ernsthaften Wiederaufbau beginnen kann und nicht nur damit, die Dinge provisorisch zu reparieren. Wir sind auch nicht sicher, wie die weitere finanzielle Unterstützung durch die Bundesregierung aussehen wird – also in welchem Ausmaß wir unsere Arbeit mittelfristig weiterführen können.
Welche Handlungsräume haben NRO, in einem so unsicheren Umfeld etwas zu bewirken?
El Haidag: Die Sicherheitslage ist für uns ein riesiges Problem. An der Kontaktlinie, wo gekämpft wird und Bomben fallen, ist der humanitäre Bedarf am größten – genau dort müssen wir hin. In einer Schule in Charkiw haben wir Binnenvertriebene für Bargeldhilfe registriert. Während sie anstanden, wurde die Schule beschossen. Glücklicherweise wurden die Menschen vor Ort gerade noch rechtzeitig gewarnt, dabei hatten sie nur wenige Sekunden, um sich in Sicherheit zu bringen. So etwas kann täglich passieren. Und unsere ukrainischen Kolleg_innen sind zusätzlichen Risiken ausgesetzt, so wurde beispielsweise ein Mitarbeiter einer lokalen Partnerorganisation von russischen Soldaten entführt. Seitdem haben wir von ihm nichts mehr gehört.
Bals: Weil viele Mitglieder der ukrainischen Zivilgesellschaft nach Deutschland oder in andere europäische Länder geflohen sind, findet ein Teil unserer Kooperation jetzt nicht mehr in der Ukraine selbst statt, sondern innerhalb Deutschlands oder zwischen Deutschland und anderen europäischen Ländern. Wir denken viel darüber nach, wie ein Wiederaufbau aussehen muss, der wirklich im Interesse der Ukraine ist. Und mit unseren Partnerorganisationen überlegen wir, wie wir den Kohleausstieg an Orten vorantreiben können, die sich nicht in der Hauptkriegszone befinden.
Hundt: Wir sind eine kleine Organisation. Wir reagieren kurzfristig auf die Notwendigkeiten. Dabei stoßen wir mit unseren Ressourcen oft an Grenzen – wenn ein Kinderheim Schutzräume braucht, sind wir nicht in der Lage, die zu bauen. Hier in Leipzig sehen wir, dass die Menschen aus der Ukraine sich sehr stark selbst organisieren, etwa um Hilfsgüter in ihre Heimat zu schicken oder um sich hier zu treffen und gemeinsam etwas zu unternehmen.
Tuzani: Die mentale Gesundheit der Menschen ist eine Herausforderung – nicht nur bei denen, die gekämpft haben, auch unter der Zivilbevölkerung. Sie sind noch nicht ganz hier angekommen, aber auch nicht mehr in der Ukraine. Es hilft, dass sich die Menschen hier treffen können und etwas zusammen unternehmen. Angefangen haben wir mit einem Yogakurs. Dann wollten immer mehr Personen ihre Hobbies zeigen. Das sind praktisch Selbsthilfetreffen. Manchmal haben wir Leute eingeladen, die etwas über die deutsche Arbeitswelt erzählen.
Was trägt all das zur Friedensförderung bei?
Bals: Ein wichtiger Kern für konstruktive Zukunftsszenarien ist, welche Rolle eine in die EU integrierte Ukraine für den Ausstieg aus Kohle, Öl und Gas für den Aufbau eines resilienten und nachhaltigen Energie- und Ernährungssystems in der EU und darüber hinaus spielen kann; und wie ein Russland der Nach-Putin-Zeit Auswege aus dem Ressourcenfluch, bedingt durch die massive Abhängigkeit vom Export fossiler Ressourcen, finden kann. Ausgehend von unseren Kernthemen, der Transformation des Energie- und Ernährungssystems, loten wir derzeit unsere Rolle aus, wie man nach dem russischen Angriffskrieg die Ukraine bei Wiederaufbau und Integration in die EU unterstützen und zugleich Wege bereiten kann für eine neue Friedensordnung. Darüber sprechen wir mit Ukrainer_innen und mit Menschen, die Russland verlassen mussten, weil sie sich beispielsweise gegen den Krieg positioniert haben. Es rührt an Identitätsfragen und an tief verankerte Traumata. Als international aufgestellte NRO, die sich den Menschenrechten verpflichtet fühlt, wollen wir schauen: Wie können wir da gemeinsam vorangehen und den Beteiligten die Möglichkeit eröffnen, sich später selbst wieder einzureihen? Das ist ein Lernprozess mit offenem Ausgang.
El Haidag: Frieden zu schaffen ist nicht unser Mandat. Aber ich denke, dass unsere Arbeit dazu beiträgt, die Grundlagen für Frieden zu schaffen. Denn je größer die Zerstörungen und Verletzungen am Kriegsende sind, desto schwieriger wird es sein, die Gräben zu schließen.
Wie lassen sich Gräben schließen?
Hundt: Wir haben schon immer mit Einrichtungen in Russland und der Ukraine gearbeitet, und bisher halten wir den Kontakt. Unsere dortige Partnerorganisation ist in Russland als NRO noch nicht verboten, und wir dürfen noch Freiwillige von dort aufnehmen – zuletzt waren das allerdings Freiwillige, die weg wollten aus Russland. Manchmal kommt es hier in Leipzig auch zu Spannungen zwischen ukrainischen und russischen Geflüchteten.
Tuzani: In unserem Netzwerk sind auch ehemalige Freiwillige aus Russland, die schon seit Jahren in Leipzig wohnen. Viele haben von Anfang an viel für unsere Ukraine-Arbeit getan.
Hundt: Sie fühlen sich verpflichtet, etwas für die Ukraine zu tun, oftmals aus einer Art Schuldgefühl heraus. Sie wissen, dass es eine riesige Ungerechtigkeit ist, was in der Ukraine passiert, und sie können kaum etwas dagegen tun – außer sich bei uns einzubringen.
Tuzani: Wenn Geflüchtete aus der Ukraine hier in Leipzig Menschen mit russischem Hintergrund kennenlernen, die ihnen tatsächlich helfen, dann kann das schon etwas bewirken. Aber man muss das sehr sensibel angehen. Auf keinen Fall darf man die Menschen zu irgendetwas zwingen. Im Betreuungsteam unseres Feriencamps war eine Künstlerin aus Russland, die zu Anfang des Kriegs nach Deutschland gekommen ist und sich hier stark engagiert. Aber die Kinder haben sie erst einmal nicht angenommen. Erst nach und nach war das möglich.
Wie schätzen Sie die Chancen für Ihre Arbeit in der Ukraine in den kommenden zwei, drei Jahren ein?
Bals: Wir arbeiten mit Szenarien – und bereiten uns vor allem auf eines vor, mit dem wir relativ konstruktiv arbeiten können. Wir möchten vermeiden, einer negativen Selffulfilling Prophecy zu folgen, sondern alles dafür tun, dass positive Entwicklungen möglich sind.
El Haidag: Solange der Krieg anhält, werden wir sehr viel Arbeit haben. Und wenn irgendwann der Übergang kommt von der Humanitären Hilfe zum Wiederaufbau und zu längerfristiger Entwicklungsarbeit, dann haben wir starke Organisationen vor Ort, die im Idealfall übernehmen und die bisherige gemeinsame Arbeit auch allein fortführen können. Das ist die Stärke der Zivilgesellschaft. Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg.
Tuzani: Wir werden die Menschen weiter unterstützen, damit sie die Folgen des Krieges bewältigen können, für ihre Familien, ihre Gemeinschaften und ihre Städte. Irgendwann wird dieser Krieg vorbei sein. Dann wird es der Ukraine wieder besser gehen – denn schlimmer kann es nicht mehr werden.
Das Interview führte Alexandra Endres im Rahmen ihrer Recherchen für den NRO-Report „Imagine. Wie Nichtregierungsorganisationen zu einer friedlichen Welt beitragen“.
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