Im zentralen Mittelmeer füllen zivile Seenotrettungsorganisationen seit 2015 die durch das Fehlen staatlicher Seenotrettung der EU-Staaten entstandene Lücke. Auf der tödlichsten Fluchtroute der Welt haben Nichtregierungsorganisationen (NGOs) weit über 120.000 Menschen vor dem Ertrinken bewahrt und müssen ihren Handlungsspielraum trotzdem laufend neu aushandeln und verteidigen. Im Schatten der COVID-19-Pandemie hat sich die Lage weiter zugespitzt: Während Menschen weiter von Libyen aus über das Meer nach Europa fliehen, werden zivile Rettungsschiffe systematisch festgesetzt und der Zugang zu lebenswichtiger humanitärer Hilfe wird massiv eingeschränkt – mit fatalen Folgen für schutzsuchende Menschen.
An den Außengrenzen der Europäischen Union (EU) wird im Kontext von Flucht und Migration der Raum für prinzipiengeleitetes humanitäres Handeln seit Jahren eingeschränkt. Menschenrechtsverteidiger_innen und humanitäre Helfer_innen, die Menschen auf der Flucht zur Hilfe kommen, sehen sich Ermittlungsverfahren, administrativen Schikanen, Einschüchterungsversuchen und Verleumdungskampagnen ausgesetzt. Seit 2015 wurden mehr als 170 Menschen in Europa strafrechtlich verfolgt, weil sie Migrant_innen und Flüchtenden in Not geholfen haben. Dies betrifft auch die Besatzungsmitglieder humanitärer Rettungsschiffe im zentralen Mittelmeer. Ihr konsequenter Einsatz für das Recht auf Leben und den uneingeschränkten Zugang zu humanitärer Hilfe haben sie auf Kollisionskurs mit der europäischen Migrationspolitik gebracht. Denn die Retter_innen bringen die aus Seenot geretteten Menschen an einen sicheren Ort (Europa), wie es das Seerecht vorschreibt.
Doch die EU-Politik zielt darauf ab, schutzsuchende Menschen an der Ankunft in Europa zu hindern. Die lebensrettende Arbeit von Rettungs-NGOs wird vielfältig blockiert, kriminalisiert und politisch instrumentalisiert. Seit 2018 haben nationale Behörden etwa 50 Verwaltungs- und Strafverfahren gegen Besatzungsmitglieder oder Schiffe eingeleitet. Behördliche Schikanen wie Flaggenentzug, Festsetzung der Schiffe oder strafrechtliche Verfolgung einzelner Crewmitglieder verhindern immer wieder die Rettung von Menschen in Seenot. Fast jede Seenotrettungsorganisation war in den letzten Jahren aufgrund von Interventionen staatlicher Stellen gezwungen, ihren Einsatz zumindest vorübergehend einzustellen. Gleichzeitig hat sich die EU selbst immer weiter aus der Seenotrettung im zentralen Mittelmeer zurückgezogen – obwohl die Rettung von in Not geratenen Menschen auf dem Meer nach internationalem See- und Völkerrecht Pflicht ist.
Blockade ziviler Seenotrettung
Einen neuen traurigen Höhepunkt hat die seit Jahren anhaltende Blockade ziviler Seenotrettung mit der systematischen Festsetzung der NGO-Schiffe im letzten Jahr erreicht. Wegen angeblicher Sicherheitsmängel werden die humanitären Schiffe seitdem am Auslaufen gehindert. Dass die meisten dieser Schiffe bereits seit Jahren unter hohen Sicherheitsstandards im Rettungseinsatz sind und die italienischen Behörden die Eignung der Schiffe bei Inspektionen zuvor nie angezweifelt hatten, zeigt die politische Motivation hinter den Blockaden.
Darüber hinaus haben die meisten europäischen Küstenstaaten mit Verweis auf die pandemische Lage im Frühjahr letzten Jahres nicht nur ihre Grenzen, sondern faktisch auch ihre Häfen für aus Seenot gerettete Menschen geschlossen. Die im Herbst 2019 beschlossene Malta-Vereinbarung zur Aufnahme und Verteilung aus Seenot geretteter Menschen innerhalb Europas wurde ausgesetzt. Das deutsche Bundesinnenministerium rief im April 2020 zivile Seenotrettungsorganisationen sogar schriftlich dazu auf, den Rettungseinsatz vorerst einzustellen – ein klarer Widerspruch zu den humanitären Prinzipien und geltendem internationalen Recht. Während die Seenotrettung so fast vollständig zum Erliegen kam, flohen weiter Menschen aus Libyen über das Mittelmeer. Zwischen Mitte September und Mitte November 2020 waren fast alle aktiven zivilen Seenotrettungsschiffe wegen angeblicher Sicherheitsmängel in Italien festgesetzt. Mindestens 470 Tote waren die Folge. Und auch dieses Jahr geht die Blockade vieler humanitären Schiffe weiter.
Dabei ist der Einsatz der zivilen Seenotrettungsschiffe angesichts der Untätigkeit der EU-Staaten unverzichtbar: Denn die Gefahr, auf der Flucht über das Mittelmeer, der tödlichsten Fluchtroute der Welt, zu sterben, ist zuletzt weiter gestiegen. In der ersten Jahreshälfte 2021 sind dort mindestens 686 Menschen ertrunken – mehr als doppelt so viele wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Ende April hat die Crew der Ocean Viking von SOS MEDITERRANEE das bisher größte Bootsunglück dieses Jahres bezeugt. Weil staatliche Stellen über viele Stunden auf Notrufe nicht reagierten und die zivilen Akteure bei der Suche komplett auf sich allein gestellt waren, haben Schätzungen zufolge bis zu 130 Menschen ihr Leben verloren.
Die große Tragödie dabei ist, dass diese Toten vermeidbar gewesen wären, wenn die EU-Staaten sich endlich zu einem gemeinsamen und konsequenten Vorgehen in der Seenotrettung einigen würden. Stattdessen schaut Europa dabei zu, wie im Mittelmeer auf dem Rücken schutzsuchender Menschen Abschottungspolitik betrieben wird. Damit nicht genug: Seit 2016 unterstützen die EU-Staaten – darunter auch Deutschland – zusätzlich die libysche Küstenwache und bauen diese gezielt dazu auf, Flüchtende auf See abzufangen und völkerrechtswidrig in das Bürgerkriegsland Libyen zurückzubringen. Allein 2021 wurden bis Ende Juni mehr als 14.000 Menschen auf dem Meer abgefangen und nach Libyen zurückgeführt. Diese Zahl des ersten Halbjahres übersteigt die Gesamtzahl der Zwangsrückführungen des gesamten vergangen Jahres. Die meisten von ihnen landen in libyschen Internierungslagern, wo ihnen schwere und vielfache Menschenrechtsverletzungen drohen. Die EU-Staaten nehmen das wissentlich in Kauf.
Aufgrund der katastrophalen menschenrechtlichen Lage hat Ärzte ohne Grenzen, eine der wenigen Nichtregierungsorganisationen, die überhaupt noch Zugang zu libyschen Lagern hat, vor wenigen Tagen das vorübergehende Aussetzen ihrer Arbeit in zwei Einrichtungen in der Hauptstadt Tripolis erklärt. Aus Seenot gerettete, schutzsuchende Menschen dürfen nicht weiter nach Libyen zurückgebracht werden!
Humanitäre Prinzipien und Menschenrechte gelten auch in Krisenzeiten
Eine künftige Bundesregierung, die es mit den menschen- und völkerrechtlichen Verpflichtungen gegenüber schutzsuchenden Menschen ernst meint, muss die deutsche Beteiligung an der Ausbildung der libyschen Küstenwache und damit an den Zwangsrückführungen in die libyschen Lager sofort beenden.
Darüber hinaus muss sie deutlich machen, dass die anhaltende Pandemie nicht dazu dienen darf, dass europäische Staaten sich ihrer rechtlichen Verpflichtung und der Verantwortung für Menschen auf der Flucht entledigen. Humanitäre Prinzipien und Menschenrechte gelten auch in Krisenzeiten. Konkret muss sie sich dafür einsetzen, dass humanitäre Schiffe ihren lebensrettenden Einsatz ungehindert ausführen können.
Eine nachhaltige Lösung für die humanitäre Katastrophe im Mittelmeer kann langfristig aber nur aus Brüssel kommen. Deswegen muss die künftige Bundesregierung sich langfristig für eine europäisch koordinierte Seenotrettung einsetzen. Bis dahin müssen die humanitären Schiffe ihren lebensrettenden Einsatz ungehindert fortführen können und aus Seenot gerettete Menschen umgehend an einen sicheren Ort ausgeschifft werden.
David Starke ist Geschäftsführer von SOS MEDITERRANEE Deutschland,
Jana Ciernioch ist Politische Referentin bei SOS MEDITERRANEE Deutschland.
Dieser Artikel ist Teil unserer Themenreihe zur Bundestagswahl 2021, in der wir unsere Erwartungen für die kommende Legislaturperiode formulieren. Die Blogserie basiert auf unserem aktuellen Positionspapier Was jetzt #WeltWeitWichtig ist – Erwartungen an die Parteien zur Bundestagswahl 2021. Darin fordern wir die Parteien, die zukünftigen Abgeordneten und die kommende Bundesregierung auf, ihre Prioritäten auf eine nachhaltige Politik zu richten, die alle mitnimmt!
Lesen Sie mehr dazu unter www.weltweitwichtig.de.
David Starke & Jana Ciernioch | SOS MEDITERRANEE Deutschland |