Weltweit leben 1,5 Milliarden Menschen in Armut. Die Tendenz ist durch die Corona-Pandemie weiter steigend. Armutsbekämpfung ist damit eine der größten Herausforderungen der Gegenwart und muss endlich bei der Wurzel gepackt werden, fordern Mira Ballmaier und Dr. Jürgen Focke, Sprecher_innen unserer AG Agenda 2030. Ihr Blogpost zum Thema Armut bildet den Auftakt unserer neuen Themenreihe, die zeigt, welche Schwerpunkte für unseren Verband #weltweitwichtig sind.
In den vergangenen Jahrzehnten ist die Zahl der Menschen, die in extremer Armut leben, zunächst deutlich gesunken. Noch vor der Corona-Pandemie geriet dieser Trend jedoch ins Stocken. Es wurde offensichtlich, dass die Staatengemeinschaft nicht „on track“ ist, ihr Ziel zu erreichen, extreme Armut bis 2030 zu beenden. Die Pandemie hat die Erfolge nun sogar zunichte gemacht und dazu geführt, dass die Zahlen zum ersten Mal in über 20 Jahren wieder steigen. Der druckfrische Sustainable Development Report 2021 prognostiziert, dass durch die Folgen der Corona-Krise über 120 Millionen Menschen mehr in extreme Armut fallen. Am stärksten betrifft dies Menschen aus Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen.
Wann gilt man als arm?
Armut existiert überall auf der Welt, ob in Deutschland oder im globalen Süden. Eine einheitliche Definition gibt es jedoch nicht. Grundsätzlich zeigt sich Armut über einen Mangel. Das kann, muss aber nicht rein auf Einkommen bezogen sein. Armut rein über das Einkommen zu betrachten, greift viel zu kurz. Stattdessen sind mehrdimensionale Betrachtungsweisen entscheidend, die auch Grundbedürfnisse wie Bildung, Gesundheit, soziale Sicherung oder Wasser- und Sanitärversorgung in den Blick nehmen. Auch ein Mangel an Teilhabechancen kann Armut bedeuten. Neben extremer Armut werden häufig weitere Unterscheidungen vorgenommen, z.B. in relative oder gefühlte Armut. Von extremer Armut spricht man, wenn Menschen weniger als 1,90 US-Dollar (etwa 1,57 Euro) pro Tag zur Verfügung haben. Relative Armut wird mit dem mittleren Einkommen des Landes angegeben. Die Armutsgrenze in Deutschland liegt bei 60 Prozent des mittleren bedarfsgewichteten Nettoeinkommens der Bevölkerung in Privathaushalten. Stand 2019 umfasst dies etwa 14.000 Euro. Im Gegensatz dazu lässt sich gefühlte Armut nicht über einen Wert wiedergeben. Menschen fühlen sich arm, wenn sie diskriminiert und ausgeschlossen werden. Gefühlte Armut hat eine große soziale Dimension.
Corona-Pandemie verschärft weltweite Armutsrisiken
Noch ist das Ausmaß der Auswirkungen der Pandemie nicht in seiner Gänze absehbar, doch schon jetzt ist klar: Die Lage ist sehr ernst. Über die Hälfte der Weltbevölkerung hat keinen Zugang zu sozialen Sicherungsmechanismen, in Afrika sind es über 90 Prozent. Millionen Menschen wurden durch Beschäftigungsverluste die Lebensgrundlage genommen und sie sind von Armut und wirtschaftlicher und sozialer Ausgrenzung betroffen. Dies gilt insbesondere im informellen Sektor, in dem die überwiegende Mehrheit der arbeitenden armen Menschen beschäftigt ist. Die Krise wirkt sich außerdem unverhältnismäßig stark auf den Lebensunterhalt von jungen und weiblichen Arbeitnehmer_innen aus, die ohnehin eine viel höhere Wahrscheinlichkeit haben, in Armut zu leben. Jüngere Menschen waren im Jahr 2019 doppelt so häufig von Armut betroffen wie Erwachsene. Auch für andere vulnerable Personengruppen wie Menschen mit Behinderungen oder ältere Menschen spitzt sich die Situation zu. Waren sie bereits vor der Pandemie einem erhöhten Armutsrisiko ausgesetzt, ist die Gefahr, nun vollständig von globalen Entwicklungsfortschritten abgehängt zu werden, realer als je zuvor.
Armut in all ihren Formen ist damit die zentrale Herausforderung der Gegenwart. Sie steht zugleich in einem engen Interdependenzverhältnis zu zahlreichen weiteren Themen wie Bildung, Gesundheit, Hunger oder dem Klimawandel. Unsere globalisierte Welt ist im Wandel und das eine kann nicht losgelöst vom anderen betrachtet werden. Umso dringender sind Deutschland und die internationale Staatengemeinschaft gefordert, sich nicht zurückzulehnen und die Geschehnisse von der Seitenlinie aus zu betrachten. Die Corona-Pandemie muss als Weckruf verstanden werden, dass keine Zeit mehr bleibt, abzuwarten und Tee zu trinken. Übrigens zum Thema Tee: Laut einer Oxfam-Studie verdienen Pflücker_innen auf indischen Teeplantagen umgerechnet nur zwischen 1,73 und 2,14 Euro pro Tag. Dies ist weniger als die Hälfte dessen, was einem existenzsichernden Lohn entspräche. Die Folge: 56 Prozent der befragten Plantagenarbeiter_innen haben nicht ausreichend zu essen und lebt unter der Armutsgrenze.
Um zu verhindern, dass Ungleichheiten zwischen und in Staaten sich weiter vergrößern, müssen endlich die Versprechen eingelöst werden, die der Weltbevölkerung mit der Agenda 2030 gegeben wurden.
Ziel der Agenda 2030: Armut in allen Formen beenden
Die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung steckt in diesem Sinne voller Versprechen, voller Ziele und notwendiger Schritte. Sie wurde 2015 von den Vereinten Nationen (UN) verabschiedet und benennt einen umfassenden und ehrgeizigen Weg hin zu einer lebenswerten Welt für diese und die nächsten Generationen. Die Beendigung von Armut in all ihren Dimensionen ist dabei als erstes Ziel festgehalten. Bis 2030 möchte die Staatengemeinschaft alle Ziele für alle Menschen erreichen. Doch bereits vor dem Ausbruch von Sars-CoV-2 war klar: Im gegenwärtigen Tempo ist das unmöglich.
Auch die deutsche Regierung hat sich den 17 Nachhaltigkeitszielen verpflichtet, doch setzt dies bisher nicht kohärent genug um. Und dass, obwohl sie Armutsbekämpfung als eines ihrer priorisierten Ziele und als „Qualitätsmerkmal“ benennt (vgl. Seite 34). Im März dieses Jahres wurde die Aktualisierung der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie veröffentlicht, die die Umsetzung der Agenda 2030 in und durch Deutschland regeln soll. Doch dies ist unserer Ansicht nach nicht weitreichend genug. Für uns ist klar: Der Übergang in eine nachhaltige Zukunft ist keine Option, sondern ein Muss.
In den kommenden Jahren brauchen wir daher eine Bundesregierung, die den Weg dorthin aktiv gestaltet und entsprechend dem Leitbild der Agenda 2030 dafür Sorge trägt, dass wir „niemanden zurücklassen“. Wir müssen gewaltige Fortschritte machen, um zukünftig in einer gerechten und nachhaltigen Welt leben zu können. Die Agenda 2030 weist uns den Weg und hat die notwendigen Schritte bereits aufgezeichnet. In diesem Sinne erwarten wir von der zukünftigen Bundesregierung, dass
… die Agenda 2030 der Rahmen für das gesamte Regierungshandeln ist und ressortübergreifend kohärent und orientiert an menschenrechtlichen Standards umgesetzt wird.
… die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie globaler ausgerichtet und um dafür geeignete Indikatoren erweitert wird.
… alle Bundesministerien verbindliche Vorgaben zur Umsetzung der Agenda 2030 und der Nachhaltigkeitsstrategie erhalten. Die spezifischen Maßnahmen sollten regelmäßig im Bundestag und in anderen öffentlichen Foren diskutiert und von der Zivilgesellschaft kommentiert werden.
… für alle Bundesgesetze eine verpflichtende Folgenabschätzung durchgeführt wird, der ambitionierte Nachhaltigkeitskriterien zugrunde liegen.
… sich die deutsche Entwicklungszusammenarbeit konsequent daran ausgerichtet, die weltweite Ungleichheit zu verringern und den Grundsatz „niemanden zurücklassen“ auf nationaler und internationaler Ebene zu leben.
Dieser Artikel ist Teil unserer Themenreihe zur Bundestagswahl 2021, in der wir unsere Erwartungen für die kommende Legislaturperiode formulieren. Die Blogserie basiert auf unserem aktuellen Positionspapier Was jetzt #WeltWeitWichtig ist – Erwartungen an die Parteien zur Bundestagswahl 2021. Darin fordern wir die Parteien, die zukünftigen Abgeordneten und die kommende Bundesregierung auf, ihre Prioritäten auf eine nachhaltige Politik zu richten, die alle mitnimmt!
Lesen Sie mehr dazu unter www.weltweitwichtig.de.
Mira Ballmaier / Dr. Jürgen Focke | VENRO / Christoffel-Blindenmission / HelpAge Deutschland |