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Die Zukunft von Zivilgesellschaft: Eine Frage der Anschlussfähigkeit

VENRO-Forum #NROZukunft in Hannover
Soziale Gerechtigkeit, Klimaschutz, Nachhaltigkeit: Auf dem VENRO-Forum #NROZukunft haben wir gemeinsam mit unseren Mitgliedsorganisationen über die zivilgesellschaftlichen Herausforderungen von morgen diskutiert. Was wird in Zukunft wichtig sein?

Während der Coronavirus sich weltweit als Pandemie ausbreitet und strenge Sicherheitsmaßnahmen von Regierungen verhängt werden, frage ich mich, ob wir mit dieser Situation nicht schon ein Stück Zukunft schnuppern. Ich meine damit nicht das in Deutschland nicht mehr käufliche Toilettenpapier. Vielmehr geht es darum, dass soziale Ungerechtigkeit weltweit steigt und dies Auswirkungen auf die Arbeit von NRO haben wird. Was wird die zivilgesellschaftliche Arbeit sonst zukünftig prägen? Wie können sich Nichtregierungsorganisationen (NRO) für die Herausforderungen von morgen wappnen?

Zur Frage was in Zukunft für die Zivilgesellschaft wichtig wird, bietet dieser Artikel eine Reihe von Thesen an, die sich zum Teil aus Diskussionen des VENRO-Forums zur #NROZukunft vom 9. Dezember 2019 speisen. Das VENRO-Forum war als Barcamp ausgerichtet und bot den Mitgliedern von VENRO die Gelegenheit, eigene Fragen zur Zukunft von NRO einzubringen und zu diskutieren.

Krisenresistenter werden

Angesichts der aktuellen COVID-19-Pandemie und anhaltender gewaltvoller Konflikte ist klar, dass die humanitäre Hilfe weiterhin ein wichtiger Bestandteil der zivilgesellschaftlichen Arbeit bleiben wird. Auf Grund von langanhaltenden Konflikten im Nahen Osten und afrikanischen Ländern, wie Kamerun und Burkina Faso, werden schon in diesem Jahr 168 Millionen Menschen humanitäre Hilfe benötigen. Daher wird es immer wichtiger Nothilfe, Entwicklungszusammenarbeit und Friedensentwicklung gut miteinander abzustimmen, so dass Regierungen und NRO Menschen in Not angemessen helfen können. Die damit zusammenhängende Migration und Flucht wird ein wichtiger Fokus der zivilgesellschaftlichen Arbeit bleiben. Wir müssen uns politisch dafür einsetzen, dass Migration rechtebasiert und entwicklungsorientiert gestaltet wird.

Klimawandel zu Ende denken

Eine neue Debatte, die verstärkt geführt werden wird, stellt die Frage wie NRO und Regierungen die Lebensumstände für Milliarden Menschen klimaneutral gestalten können. Die Debatte beinhaltet sowohl Fragen zur Zusammenarbeit mit Partnerorganisationen als auch Umgangsweisen innerhalb der eigenen Organisationen.

Fliegen wird in Zukunft weniger gesellschaftlich akzeptiert. Das nennen Journalist_innen schon jetzt „Flight Shaming“. Mit ihren häufigen Dienstreisen verantworten Mitarbeitende von NRO einen Teil der Langstreckenflüge und somit CO2-Emmissionen, um Projekte mit Partnerorganisationen zu besprechen, Kapazitäten weiter zu entwickeln oder Wirkungen gemeinsam zu messen. Immer mehr Organisationen führen eigene Leitlinien für ein nachhaltiges entwicklungspolitisches Projektmanagement ein auf dem Weg zur klimaneutralen Organisation. Diese neue Kultur der Klima-Neutralität muss sich weiter etablieren und erfordert von NRO ein Umdenken der eigenen Praxis.

Neue Jugendbewegungen mitnehmen

Die globale Klimabewegung Fridays for Future zeigt uns, dass neue jugendliche Bewegungen entstehen, die Gehör finden. Sie leisten einen wichtigen Beitrag im Kampf gegen den Klimawandel und für eine gerechtere Welt. Eine Herausforderung wird es für NRO sein, mit diesen neuen Jugendbewegungen anschlussfähig zu bleiben und sich von ihnen inspirieren zu lassen.

Nachhaltige Entwicklungsziele vorantreiben: Raus aus der Blase

Im Kontext der nachhaltigen Entwicklungsziele leisten NRO einen globalen Beitrag zur Überwindung weltweiter Armut. Laut einer Studie des Deutschen Evaluierungsinstituts sind die nachhaltigen Entwicklungsziele der deutschen Bevölkerung jedoch „weitgehend unbekannt“. Für eine kleine Veranschaulichung der Herausforderung: Auch die Rechtschreibprüfung von Word kennt das Wort „Nachhaltigkeitsziele“ und „Entwicklungszusammenarbeit“ nicht. Es gilt diese globalen Themen stärker innerhalb Deutschlands zu verankern. Dafür müssen NRO aus der entwicklungspolitischen Blase herauszutreten und sich mit neuen Bewegungen und Akteur_innen vernetzen. Inwieweit uns dies gelingt, wird nicht zuletzt daran hängen inwieweit wir mit einer neuen Offenheit Ideen entwickeln und ausprobieren.

Mehr vernetzen

NRO verbinden sich durch die Globalisierung weltweit und sind in verschiedensten Netzwerken aktiv. Auch innerhalb Deutschlands wird es wichtiger sich untereinander zu vernetzen, um einerseits politische Akzente zu setzen und um andererseits die Qualität der eigenen Arbeit zu verbessern. Humanitäre NRO sammelten beispielsweise durch die Ebola-Krise wertvolle Erfahrungen, die jetzt für den Umgang mit der COVID-19 Pandemie zum Einsatz kommen können.

Nützlich kann darüber hinaus sein, neue Akteur_innen wie philanthropische Stiftungen oder die Privatwirtschaft zu identifizieren und stärker für die gesamtgesellschaftlichen Ziele zur Überwindung von Armut und für eine gerechtere Welt zu erreichen.

Zu entwicklungspolitischen Influencer_innen werden

Bei der Vernetzung helfen uns schon jetzt digitale Instrumente. NRO können leichter mit ihren Partnerorganisationen im globalen Süden digital kommunizieren. NRO nutzen in der entwicklungspolitischen Projektarbeit eine Reihe digitaler Instrumente und werden zukünftig vermehrt neue Technologien verwenden. Sie können politische Kampagnen im Netz verfolgen und erreichen damit mehr Menschen. NRO nutzen Facebook, Youtube, Instagram und Twitter, um schnell Informationen an eine Vielzahl von Menschen zu tragen und politische Impulse zu setzen. Wie können wir solidarische Bewegungen, die sich digital verbreiten, wie beispielsweise #metoo oder #fridaysforfuture, noch stärker für unsere Arbeit nutzen?

Influencer_innen nutzen das Netz, um für ein Produkt oder eine Idee zu werben. Inwieweit steckt darin auch ein Potential für die Zivilgesellschaft? Wie können NRO neue digitale Einflussmöglichkeiten für sich weiter erschließen und zu „entwicklungspolitischen Influencer_innen“ werden? Diese Fragen gilt es für sich zu klären.

Bei der digitalen Datenverarbeitung und dem Datenmanagement müssen Persönlichkeits- und Menschenrechte geachtet werden. Welche Auswirkungen die Digitalisierung auf die Arbeitsweisen sowie die Projektentwicklung und -durchführung hat, ist noch nicht vollständig klar. Fest steht, dass sich NRO gemeinsam mit anderen entwicklungspolitischen Akteur_innen damit auseinandersetzen müssen, um negativen Effekten in der Projektarbeit möglichst entgegen zu wirken.

In der entwicklungspolitischen und humanitären Projektarbeit gilt es den Digital Divide anzugehen und gezielt Projekte mit den lokalen Gemeinschaften zu entwickeln, um die Digitalisierung gerecht zu gestalten. Eine Gefahr besteht in der schnellen Vermittlung von Informationen insbesondere bei der Vermittlung von Fehlinformationen oder Gerüchten über NRO, ihre Partnerorganisationen und (vulnerable) Zielgruppen. Hier stehen NRO im Norden und Süden vor ganz neuen Herausforderungen, die sie bewältigen müssen.

Entwicklungspolitische Akteur_innen sollten sicherstellen, dass neue Innovationen auf Nachhaltigkeit ausgerichtet sind und neue Technologien für gute Zwecke nutzbar gemacht werden.

NRO im Globalen Norden: Überflüssig oder noch wichtiger?

Die Rolle der Zivilgesellschaft verändert sich. Vermehrt können Süd-NRO direkt finanziert werden und somit wird die finanzierende Rolle der Nord-NRO obsolet. Damit verändert sich auch ihre Rolle. NRO müssen sich an die Veränderungen angemessen anpassen und frühzeitig Ideen entwickeln, welche Schwerpunkte und welchen Modus der Zusammenarbeit mit den NRO im Globalen Süden sie in Zukunft setzen möchten oder setzen können. Vielleicht werden sich NRO mehr auf die Rolle der Verknüpfung globaler Themen mit der Lebenswelt im Norden und Süden beschäftigen.

Zivilgesellschaftliche Handlungsräume schwinden

Staaten schränken zunehmend die Handlungsräume der Zivilgesellschaft ein (Shrinking Spaces). Zu den Repressionen zählen unter anderem Schmähkampagnen, willkürliche Verhaftungen sowie physische, sexualisierte und psychische Gewalt. Zivilgesellschaftliche Organisationen werden rechtlich und bürokratisch behindert und schikaniert. Häufig werden Gesetze wie Antiterrorismus-, Sicherheits-, Internet- und Mediengesetze, aber auch das Strafrecht als Vorwand dafür herangezogen.

NRO sollten sich für den Fall wappnen, dass die Handlungsspielräume für die Zivilgesellschaft weltweit weiter schwinden. Der CIVICUS-Monitor legt dies nahe: Aktuell lebt nur drei Prozent der Weltbevölkerung in uneingeschränkter gesellschaftlicher Freiheit. In sieben von acht Staaten der Erde ergreift die jeweilige Regierung Maßnahmen gegen Journalist_innen, Menschenrechtsverteidiger_innen, politische Aktivist_innen oder gegen Nichtregierungsorganisationen (NRO). Sogar in Deutschland kam es zuletzt zur Aberkennung der Gemeinnützigkeit gleich mehrerer Vereine.

Das Problem zeigt sich auf verschiedenen Ebenen und deshalb sollten NRO vielfältige Lösungen entwickeln: Es geht um den Umgang mit Shrinking Space in der Projektarbeit und der Frage wie Mitarbeitende, Projektparter_innen und Zielgruppen geschützt werden können. Vor Ort können Strategien entwickelt werden wie die Menschen mit den Einschränkungen umgehen können und ggfs. politisch dagegen vorgehen können.

Darüber hinaus ist die Zivilgesellschaft als politischer Watchdog auf der politischen Bühne gefragt: NRO sollten sich weiterhin im Globalen Norden und Süden dafür stark machen, dass Handlungsspielräume erweitert werden. Denn eine Demokratie braucht Zivilgesellschaft. NRO erfüllen eine wichtige Rolle im Erhalt der Demokratie und der Teilhabe von NRO an politischen Entscheidungen.

Politischer werden

NRO müssen politischer werden – sowohl in Deutschland als auch im Globalen Süden. Rechtspopulismus ist ein Phänomen, das NRO vor neue Herausforderungen stellt und in Zukunft stellen wird. 12,9% der Deutschen würden zum jetzigen Zeitpunkt die AfD bei der Bundestagswahl wählen. Wie soll die Zivilgesellschaft damit umgehen, dass Rassismus in Deutschland wieder salonfähig geworden ist?

Die entwicklungspolitische Projektarbeit sollte politischer werden. Ein vereinfachtes Beispiel: Wenn Projekte Menschen vor Ort im Gesundheitsbereich durch die Bereitstellung von Medikamenten unterstützen, sollten wir die menschenrechtsbasierte Perspektive in den Projekten mit verankern, nämlich warum haben diese Menschen keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung und wie können sie das ändern? Da können Advocacy-Komponenten hilfreiche Ergänzungen für Projekte sein.

#Metoo-Debatte: Auswirkungen auf unsere Arbeit

Die in 2019 begonnene #metoo-Debatte um sexualisierte Gewalt und Machtmissbrauch von vornehmlich Männern in Machtpositionen führte weltweit zu einem neuen Bewusstsein dieser Problematik. Für NRO bedeutet das sich in der Projektarbeit verstärkt mit Safeguarding-Ansätzen auseinander zu setzen. Viele Organisationen haben ihre Safeguarding Policies inzwischen überarbeitet und angemessene Beschwerdemechanismen für vulnerable Gruppen eingeführt. Die Mitgliedsorganisationen von VENRO haben sich beispielsweise dazu verpflichtet, in ihren Organisationen ein Umfeld zu schaffen, in dem Missbrauch von anvertrauter Macht effektiv vorgebeugt wird, und geeignete Maßnahmen zum Schutz vor sexualisierter Gewalt und Ausbeutung zu ergreifen. Der VENRO-Verhaltenskodex Transparenz, Organisationsführung und Kontrolle fordert von allen Mitgliedsorganisationen, Regelungen zum Schutz vor sexualisierter Gewalt und Ausbeutung einzuführen und umzusetzen. Praktische Fortbildungen zur Umsetzung bietet VENRO regelmäßig für seine Mitlieder an.

Neben der Projektarbeit erlaubt die feministische Debatte der Zivilgesellschaft, einen neuen Blick auf die eigenen Organisationen zu werfen. Organisationen stellen sich vermehrt die Frage, inwieweit sie die von ihnen propagierten Werte von Geschlechtergerechtigkeit und Teilhabe in ihren eigenen Organisationen leben. Inwieweit spiegelt sich beispielsweise die Gender-Balance in den Führungsetagen der Organisationen wieder? Laut Stephanie Draper, Geschäftsführerin des britischen Dachverbands entwicklungspolitischer NRO (BOND), liegt die Lösung darin, dass Führungskräfte ihre Organisationen stärken, indem sie das Wohlbefinden und die Diversitätskluft im dritten Sektor adressieren.


Dieser Artikel ist in leicht abgewandelter Form auch im Newsletter Wegweiser Bürgergesellschaft erschienen.