Politik

VENRO-Spitze: Souverän und bissig für nachhaltiges internationales Engagement

Seit rund zwei Monaten stehen Gudrun Schattschneider und Michael Herbst dem VENRO-Vorstand vor. Im Interview erklärt die neue Doppelspitze, wie sie den nationalen und globalen Herausforderungen begegnen will.

Frau Schattschneider, Herr Herbst, was sind Ihre Visionen für VENRO? Was haben Sie sich für die nächsten Jahre vorgenommen?

Gudrun Schattschneider: „Es eine große Ehre aber auch Herausforderung, in diesen für die Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe so herausfordernden Zeiten an der Spitze von VENRO zu stehen. Ich bin froh, Michael Herbst an meiner Seite zu wissen, mit dem ich schon in bisherigen Jahren meiner Vorstandstätigkeit als Schatzmeisterin ausgesprochen gut zusammengearbeitet habe. Mit den neuen und alten Vorstandsmitgliedern bilden wir ein starkes Team, das den aktuellen Themen gewachsen ist. Wie ich auch in meiner Bewerbungsrede für den VENRO-Vorsitz schon gesagt habe, stehe ich für den konstanten Austausch mit unseren Mitgliedorganisationen. Mir ist es wichtig, als Dachverband den Interessen und Botschaften unserer Mitglieder eine starke Stimme zu geben.“

Michael Herbst: „In nicht einmal 30 Jahren ist VENRO von einer Idee zu einem breit aufgestellten und anerkannten Dachverband geworden. Nun geht es darum, ihn Schritt für Schritt schlagkräftiger zu machen. In den kommenden zwei Jahren werden Gudrun Schattschneider und ich an moderneren Arbeitsstrukturen tüfteln und insbesondere unsere Kommunikation nach innen und außen weiterentwickeln. Bei dem Gegenwind, den die Entwicklungspolitik in Deutschland im Moment bekommt, können wir inhaltlich schon froh sein, wenn wir eine Trendwende hinbekommen. Aber mittel- bis langfristig träume ich von einem Verband, mit dem sich die Politik ungerne anlegt, weil sie weiß, das gibt Ärger – und von einem Verband, der alle relevanten zivilgesellschaftlichen Akteure in Deutschland mitnehmen kann.“

Demokratie und internationale Solidarität stehen immer mehr unter Druck. Verschiedene Akteure versuchen Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe zu delegitimieren. Was entgegnen Sie den Kräften, die den Sinn und Zweck von Entwicklungspolitik in Frage stellen?

Michael Herbst: „Ganz klar ist der Rechtfertigungsdruck in jüngster Zeit immer größer geworden. Dieser Entwicklung müssen wir uns entschieden entgegenstellen. Dazu brauchen wir erstens: verständliche Erklärungen für das “warum”, zweitens: Menschen, die für dieses “warum” einstehen und drittens: politische Entscheider_innen, die globale Entwicklung ohne Wenn und Aber umsetzen. Frei nach Ex-Entwicklungsminister Müller: “Globale Probleme lösen wir nur global oder gar nicht.” Und wenn wir sie nicht lösen, dann fliegt uns unser Planet durch wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Sprengstoff um die Ohren. Der Tag muss und wird kommen, an dem wir uns diesen globalen Herausforderungen genauso konsequent stellen wie einer militärischen Bedrohung.“

Gudrun Schattschneider: „Wir müssen vereinfachte und populistische Narrative entkräften, indem wir nachvollziehbar auf die globalen Dimensionen und positiven Auswirkungen für alle Menschen hinweisen. Und ja, anscheinend ist es notwendig, „Gerechtigkeit“ in diesem Zusammenhang immer wieder neu zu erklären. Wer sagt: „Warum Geld im Ausland ausgeben, wenn wir es hier brauchen“, dem fehlt die Weitsicht oder er will die globalen Probleme gar nicht lösen. Wenn der Entwicklungshaushalt oder der der humanitären Hilfe unter Sparzwängen am meisten geschröpft wird, dann müssen wir – am liebsten zusammen mit unserer Entwicklungsministerin – lauter werden und noch klarer auf die Bedeutung dieser Mittel hinweisen.“

In der Agenda 2030 ist die Weltgemeinschaft viele Verpflichtungen eingegangen aber sehr schnell wieder vom Pfad abgekommen, die 17 Nachhaltigkeitsziele bis zum Ende des Jahrzehnts zu erreichen. Immer neue Kriege und Krisen haben es nicht leicht gemacht. Wo sehen Sie die größten Herausforderungen für den Verband im kommenden Jahr?

Gudrun Schattschneider: „Als Dachverband müssen wir an Politik und Öffentlichkeit vermitteln, dass Zusammenhalt, Solidarität, Verantwortung und Menschenrechte nicht immer wieder neu verhandelt werden können, je nach Staatshaushalt und Gegenwind von rechts. Zudem gibt es einen verpflichtenden Konsens der Weltgemeinschaft eben bis 2030 ein würdiges Leben für alle zu ermöglichen – ohne Hunger, Armut oder fehlenden Zugang zu Gesundheitsversorgung. Dafür haben wir alle Mittel und an diese Verpflichtung werden wir die Bundesregierung immer wieder erinnern.“

Michael Herbst: „Genauso ist es. In diesen herausfordernden Zeiten, in denen wir an vielen Stellen einen Rückzug auf eine „Unser-Land-Zuerst-Politik“ in ganz Europa sehen,  müssen wir den Ärmsten und Schwächsten dieser Welt umso mehr zu einer starken Lobby verhelfen. Diese laute Stimme muss dann auch in den Haushaltsverhandlungen zu hören sein. Denn wir brauchen nicht weniger, sondern mehr internationales Engagement und dafür stehen Gudrun und ich bei VENRO.“

Ein Schwerpunkt in der VENRO-Zielsetzung für die kommenden Jahre ist eine feministische Entwicklungs- und Außenpolitik. Warum ist sie essenziell?

Michael Herbst: „Die weltweit vorherrschenden Geschlechterverhältnisse sind das Ergebnis historisch gewachsener ungleicher Machtverteilung. Diskriminierung, insbesondere Sexismus und Rassismus sind oft strukturell verankert, da, wo wir hier in Deutschland arbeiten und dort, wo wir in aller Welt in Projekten tätig sind. Ohne die Aufhebung dieser Mechanismen bleibt der Impact von Entwicklungszusammenarbeit begrenzt.“

Gudrun Schattschneider: „Richtig. Eine Entwicklungsstrategie muss Geschlechtergleichstellung immer proaktiv miteinbeziehen, sonst wird sie nie gerecht und nachhaltig sein. Nicht selten sind vor allem Frauen und nichtbinäre Menschen Opfer intersektionaler, also mehrfacher, Diskriminierung. Sie sind in Krisen immer am stärksten betroffen von Tod, Armut und Hunger und bedürfen umso mehr unserer Unterstützung – aber immer verbunden mit der Arbeit an struktureller Veränderung.“

 

Gudrun Schattschneider ist Leiterin der Abteilung Politik beim Kinderhilfswerk World Vision und war von 2019-2023 Schatzmeisterin im VENRO-Vorstand.
Michael Herbst ist Leiter der politischen Arbeit bei der Christoffel-Blindenmission (CBM) und ist ebenfalls schon seit 2019 Teil des VENRO-Vorstands.