Evakuierung, Einreiseverbot, Einschränkung der Bewegungsfreiheit: Wie die Welt derzeit auf den Corona-Virus reagiert, eskaliert die Situation nur weiter, schreibt Dr. Andreas Wulf von unserer Mitgliedsorganisation medico international.
Wer glaubte, die globalisierte Welt wäre nicht zu stoppen, sieht sich seit zwei Wochen eines Besseren belehrt. Nicht die millionenstarke Fridays for Future-Bewegung, sondern ein unscheinbarer Virus bringt den internationalen Flugverkehr aus dem und in das globale Wirtschaftszentrum China zum Erliegen. Immer mehr Länder evakuieren ihre Staatsbürger_innen, als wäre ein Krieg ausgebrochen, immer mehr Staaten verhängen Einreiseverbote.
Der „Rette sich wer kann“-Reflex
Genau das wollte das Notfallkomitee der Weltgesundheitsorganisation WHO eigentlich vermeiden. Aber die Ausrufung einer public health emergency of international concern am 30. Januar 2020 scheint genau den gegenteiligen Effekt zu haben. Anstatt der gemeinsamen Anstrengung einer Weltgemeinschaft, die an einem Strang zieht und sich bei der Erforschung des Virus, bei der Suche nach einem Impfstoff und bei der Nachverfolgung bzw. Unterbrechung von Infektionsketten sowie der Versorgung betroffener Patient_innen unterstützt, werden die traditionellen Reflexe des „Rette sich wer kann“ mobilisiert. Dem globalen Wirtschaftszentrum China geschieht das gleiche wie 2014 den betroffenen westafrikanischen Staaten in der Ebola-Krise.
Auch damals brach der internationale Flugverkehr und Handel mit Guinea, Sierra Leone und Liberia entgegen der Empfehlungen der WHO zusammen. Die Nachbarländer schlossen die Grenzen und die internationalen Hilfsorganisationen hatten massive Schwierigkeiten, genügend Personal für ihre Einsätze zu rekrutieren.
Schon werden Kalkulationen angestellt, um wieviel Prozent das chinesische Wirtschaftswachstum 2020 einbrechen wird. Bei aktuell etwas mehr als 250 registrierten Todesfällen (fast alle in der Volksrepublik China) und knapp 12.000 bestätigten Infektionen bleibt die Gefährlichkeit (case-fatality rate) des neuen Virus immer noch deutlich unter der von SARS im Jahr 2003 und weit entfernt von den Opferzahlen eines „normalen“ Grippe-Winters, dessen Opfer weltweit regelmäßig auf mehr als eine halbe Million geschätzt werden.
Kritik am autoritären Kontrollregime verschwindet
Beunruhigender als die aktuelle Entwicklung des Corona-Virus-Ausbruchs erscheint deshalb auch die Selbstverständlichkeit, mit der die massiven Einschränkungen der Bewegungsfreiheit für Millionen von chinesischen Bürger_innen von der WHO und der Weltgemeinschaft offenbar als notwendig und gerechtfertigt angesehen werden.
Es muss Sorge machen, wie schnell wesentliche Grundrechte von Menschen eingeschränkt werden. Und wie schnell die Kritik am autoritären chinesischen Kontrollregime verschwindet, wenn es um den vermeintlichen Schutz vor gefährlichen Keimen geht. Das Recht auf Gesundheit darf aber nicht gegen andere Menschen- und Bürger_innenrechte, wie das der Freizügigkeit, ausgespielt werden. Die trotz intensiver Zensurmaßnahmen der chinesischen Behörden bekannt gewordenen Proteste der Bevölkerung zeigen, dass hier statt mit Augenmaß und rationalen Argumenten eine repressive Staatsmacht agiert, um Handlungsfähigkeit gegenüber der internationalen Öffentlichkeit zu demonstrieren.
WHO-Empfehlungen stoßen auf taube Ohren
Hier wäre eine frühzeitige klare und differenzierte Haltung der WHO wichtig gewesen – stattdessen hat WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus mit einem medial prominent aufbereiteten Blitzbesuch beim chinesischen Präsident Xi Jinping die massive Einsperrung noch unterstützt. So wurde die Dramatik der Situation weiter angeheizt und die Empfehlung des WHO-Notfallkomitees an die Mitgliedsländer, auf Reise- und Handelseinschränkungen zu verzichten, stieß auf taube Ohren.
Ein solidarischer Umgang mit der Krise muss anders aussehen. So wichtig sie auch sind: Die Bewältigung einer solchen Epidemie kann nicht nur Sache der Expert_innen und Regierungen sein. Ohne eine echte Einbeziehung und aufgeklärte Mitwirkung der Betroffenen werden gerade schwache Gesundheitssysteme massiv überfordert. Und autoritäre Kontrollmaßnahmen eskalieren die Situation weiter – wie aus der Ebola-Krise 2014/2015 eigentlich ausreichend bekannt ist.
Der Blogbeitrag erschien in ähnlicher Form bei unserer Mitgliedsorganisation medico international. Diesen Beitrag finden Sie hier auch auf Englisch.
Dr. Andreas Wulf | medico international |