Politik

50 Jahre 0,7-Prozent-Ziel – Ein Anlass zum Feiern?

Vor 50 Jahren, am 24. Oktober 1970, setzte sich die Weltgemeinschaft zum Ziel, dass die reichen Länder 0,7 Prozent ihres Bruttonationaleinkommens (BNE) für Entwicklungszusammenarbeit und Humanitäre Hilfe aufwenden sollen. Im Interview nimmt Dr. Bernd Bornhorst, Vorstandsvorsitzender von VENRO, das Jubiläum zum Anlass, einen kritischen Blick auf dieses Ziel zu werfen.

Beinahe pünktlich zum 50. Jahrestag konnte Bundesminister Gerd Müller verkünden, dass Deutschland in diesem Jahr voraussichtlich das 0,7-Prozent-Ziel erreichen wird. Ist das nicht ein Grund zum Feiern?

Bernd Bornhorst: Deutschland leistet einen beachtlichen finanziellen Beitrag zur Bewältigung von Armut und Hunger in der Welt. Da hat Minister Müller gemeinsam mit engagierten Abgeordneten im Bundestag in den vergangenen Jahren mit viel Überzeugungsarbeit einiges erreicht. Sicherlich haben auch wir bei VENRO unseren Teil dazu beigesteuert. Wir haben so hartnäckig auf die Erreichung des 0,7-Prozent-Ziels gedrängt, dass ich so manches Augenrollen bei Abgeordneten erkennen konnte. Aber auch intern gab es immer wieder Diskussionen darum.

Warum wird das 0,7-Prozent-Ziel kritisch gesehen?

2015 wurde die Agenda 2030 mit ihren nachhaltigen Entwicklungszielen von der Weltgemeinschaft verabschiedet. Heute sind wir bei der Erreichung der Ziele in vielen Bereichen kaum weiter als vor fünf Jahren. Die Corona-Pandemie hat zudem viele bescheidene Fortschritte wieder zunichtegemacht – etwa bei der Armutsbekämpfung. Die globalen Herausforderungen, zu deren Bewältigung Deutschland einen Beitrag leisten muss, sind größer geworden. Allein der Kampf gegen den Klimawandel erfordert enorme Anstrengungen. Wir können als reiches und einflussreiches Land viel dafür tun, dass globale Ungleichheiten, Umweltzerstörung oder Menschenrechtsverletzungen verringert werden. Wir dürfen uns dabei aber nicht auf diesem Prozentsatz aus den 70er Jahren ausruhen. Im Gegenteil, wir müssen heute noch weitaus mehr internationale Verantwortung übernehmen. Das gilt in zwei Richtungen: Wir dürfen erstens nicht den Eindruck erwecken, als ob es möglich sei, allein durch das Erreichen eines bestimmten Prozentsatzes an finanziellen Mitteln Armut und Ungerechtigkeit auszumerzen. Zweitens erfordert die Gestaltung nachhaltiger Lebenschancen für alle Menschen und Generationen Veränderungen auf vielen Ebenen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Wenn wir diesbezüglich keine Kohärenz hinbekommen, reicht Geld allein nicht.

In der Resolution von 1970 heißt es ja auch „mindestens 0,7-Prozent“. Und die sollten eigentlich schon 1975 erreicht werden.

Natürlich sollten wir nicht vergessen, dass das 0,7-Prozent-Ziel immer eine Mindestanstrengung war, die die reichen Länder erbringen sollten. Jetzt zu feiern, dass wir nach 50 Jahren das Mindestmaß erreicht haben, wäre schon schräg.

Wir sind also knapp 45 Jahre im Rückstand. Wenn wir die Lücke zwischen den tatsächlich von Deutschland bereitgestellten Geldern den Verpflichtungen aus der UN-Resolution gegenüberstellen würden, kämen wir auf fast 500 Milliarden US-Dollar, die wir dem globalen Süden vorenthalten haben.

Wir müssten sogar hinzuzählen, welche Gewinne wir mit unserer Lebensweise, die auf der Ausbeutung von Menschen und Natur gerade im globalen Süden beruht, in all diesen Jahren erzielen konnten. Mit Hilfe der Gelder für Entwicklungszusammenarbeit sind in den letzten Jahrzehnten natürlich sehr viele positive Ergebnisse erreicht worden. Die Frage ist aber, ob das nicht alles beschämend langsam geht und ob wir in Anbetracht der planetarischen Grenzen und der ungeheuren Zerstörungsdynamik, die wir erleben, nicht viel radikaler umsteuern müssten.

Deutschland ist der zweitgrößte bilaterale Geber weltweit und das muss man würdigen. Gemessen an dem gegebenen Versprechen und den gewachsenen Herausforderungen wird Deutschland dennoch seiner Verantwortung gegenüber dem globalen Süden nicht gerecht. Denn wie gesagt, es ist nicht allein das Geld, mit dem wir etwas bewegen können. Wir müssen unser Handeln in vielen Bereichen überdenken – etwa im Hinblick auf Handelsabkommen, die Agrarpolitik oder den CO2-Ausstoß. Unser Ziel muss ein nachhaltiger Konsum sein. Die Verantwortung dafür darf allerdings nicht allein auf die Verbraucherinnen und Verbraucher abgeschoben werden. Vielmehr ist es notwendig, unser gesamtes politisches Handeln, jedes Gesetz, jedes Abkommen an Nachhaltigkeitskriterien auszurichten. Nur so können wir langfristig und strukturell ein menschenwürdiges Leben für alle realisieren.

Wie geht es weiter mit dem 0,7-Prozent-Ziel?

Ich wünsche mir, dass wir nach 50 Jahren 0,7-Prozent-Ziel neue Referenzpunkte finden, um darüber zu diskutieren, wie eine angemessene Finanzierung von Entwicklungszusammenarbeit und Humanitärer Hilfe aussieht. Wichtig ist, dass wir uns dabei an unseren Zielen orientieren: Hunger und Armut beseitigen, die Menschenrechte verwirklichen und den Klimawandel und das Artensterben stoppen. Die Ziele für nachhaltige Entwicklung sind in der Agenda 2030 bereits beschlossen. Die Höhe der tatsächlich benötigten Finanzierung, die Industrienationen und auch Deutschland für ihre Umsetzung die nächsten zehn Jahre aufbringen müssen, könnte der neue Maßstab sein. Für die Beendigung des Hungers etwa, werden zusätzliche Gelder in Höhe von 14 Milliarden Euro pro Jahr für die nächsten zehn Jahre veranschlagt. Damit ließe sich ein Ernährungssystem aufbauen, das alle Menschen auf dieser Welt ernähren kann. Insgesamt schätzt die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung die Finanzierungslücke im globalen Süden zur Erreichung aller Ziele auf etwa 2,5 Billionen US Dollar pro Jahr. Das ist eine gewaltige Summe, aber gemessen an der Weltwirtschaftsleistung sind es gerade einmal drei Prozent.

Die Höhe der Mittel muss auch in Relation zu den Mitteln gesehen werden, die wir in den vergangenen Jahrzehnten dem globalen Süden vorenthalten und die wir auf Kosten ärmerer Länder erwirtschaftet haben. Das heißt im Klartext: Um den Beitrag Deutschlands zur globalen Armutsbekämpfung zu bemessen, müssen wir asymmetrische Handelsbeziehungen und Verluste durch Steuervermeidung oder Zinszahlungen überschuldeter Staaten mit in die Berechnung einfließen lassen. Ebenso sollten wir die Summen, von denen wir in der Entwicklungszusammenarbeit sprechen, auch immer wieder in Relation zu den Mitteln setzen, die weltweit für Rüstung und Militär ausgegeben werden. Mancher Euro könnte in der Entwicklungszusammenarbeit vermutlich sinnvoller – und effektiver– zur Konfliktvermeidung beitragen und Frieden stiften.