Politik

“Ich sehe eine Chance für mehr globale Gerechtigkeit”

Seit März ist Dr. Marc-Oliver Pahl neuer Generalsekretär des Rats für Nachhaltige Entwicklung. Im Interview schätzt er die Folgen der Corona-Pandemie für die Agenda 2030 ein und bewertet, inwiefern eine überarbeitete Nachhaltigkeitsstrategie zur Eindämmung der Pandemiefolgen beitragen kann.

Dr. Pahl, das Europäische Netzwerk von Nachhaltigkeitsräten hat auf seinem Mitgliedertreffen am 21. April über die Auswirkungen der Corona-Pandemie diskutiert. Welche Folgen wird die Pandemie für die Umsetzung der Agenda 2030 und ihrer Ziele haben?

Pahl: Viele Regionen der Welt sind aktuell in einem Krisenmodus. Wie stark die Auswirkungen z. B. in Afrika sein werden, ist im Moment noch nicht absehbar. Aber klar ist schon, dass in der aktuellen Sondersituation die Umsetzung der Agenda 2030 in vielen Staaten nicht oberste Priorität hat. Der Nachhaltigkeitsrat ist jedoch der Meinung, dass die Agenda 2030 auch eine Agenda der Prävention und der Resilienz ist und es daher wichtig ist, die Sustainable Development Goals in der „Wiederaufbauphase“ als wichtige Orientierung zu sehen. Die Transformation zu einem nachhaltigen und fairen internationalen Wirtschaftssystem ist weiterhin die Schlüsselaufgabe. Unabdingbar ist, die für die Transformation erforderlichen Finanzmittel zu mobilisieren. Dazu bedarf es neuartiger Lösungen, einschließlich der effektiven Bekämpfung von Steuer- und Kapitalflucht.

Welche Möglichkeiten bietet die aktuelle Überarbeitung der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie, um die Folgen der Pandemie einzudämmen?

Pahl: Die Bundesregierung wird sicherlich in der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie konkrete Vorschläge machen, wie die Folgen der Pandemie z. B. durch einen verstärkten internationalen Know-How-Austausch abgemildert werden können. Die Nachhaltigkeitsstrategie wird aber vor allem konkrete Beiträge Deutschlands zur Verbesserung der Resilienz der internationalen Ökosysteme, der globalen Wirtschaft und der Gesundheitssysteme enthalten müssen. Wir können aber nicht auf die neue Nachhaltigkeitsstrategie, deren Verabschiedung jetzt für das Frühjahr 2021 geplant ist, warten. Deutschland muss sich auch schon in den kommenden Monaten in den internationalen Arenen für die Pandemie-Eindämmung und die Stärkung der Resilienz einsetzen, z. B. im Sinne der Stärkung der Weltgesundheitsorganisation WHO.

Wie kann sichergestellt werden, dass sich Investitionen und Programme für einen Neustart der Wirtschaft am Leitbild sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit orientieren?

Pahl: Viele Akteure in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik haben sich in den letzten Wochen eindeutig dazu bekannt, dass die anstehenden Konjunkturprogramme der Stärkung der sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit dienen müssen. Die Stimmen von VENRO und seiner Mitgliedorganisationen waren dabei auch deutlich vernehmbar. Ich setze darauf, dass diese Stimmen gehört werden und das in Zukunft sicher sehr knappe öffentliche Geld nicht für konjunkturelle Strohfeuer ausgegeben wird.

Wie bewerten Sie die Chance, dass uns nach Überwindung der Corona-Krise ein politischer Wandel zu mehr globaler Gerechtigkeit gelingt?

Pahl: Die starke Verflochtenheit der globalen Gemeinschaft ist in der Corona-Krise uns allen noch deutlicher bewusst geworden. Die Bedeutung resilienter Lieferketten spielt für die Wirtschaft in Zukunft sicher eine größere Rolle. Dass faire und ökologisch verantwortungsvolle Lieferketten auch resilienter sind, ist den meisten Unternehmen bewusst. Insofern sehe ich schon eine Chance für mehr globale Gerechtigkeit. Aber es gibt natürlich auch Akteure, die aus Corona eher den Schluss gezogen haben, dass die Schließung von Grenzen und der Ausstieg aus internationalen Systemen auch mittel- und langfristig der beste Weg ist, die Risiken für die eigene Gemeinschaft zu minimieren. Insofern bedarf es sicher vieler lauter Stimmen, die sich für faire globale Strukturen einsetzen. VENRO kann dabei eine wichtige Rolle spielen.