Politik

Shifting Power: Wir müssen mehr über Kolonialismus und Rassismus reden

Der Auseinandersetzung mit Rassismus und kolonial geprägten Machtverhältnissen muss in der Entwicklungszusammenarbeit und humanitären Hilfe mehr Platz eingeräumt werden. Es ist notwendig, dass Nichtregierungsorganisationen ihre eigene Organisations- und Arbeitsweise kritisch reflektieren und überdenken. Unser neuer Report bietet hierfür praxisnahe Unterstützung.

Diskussionen über Kolonialismus und Rassismus im Alltag haben sich in den letzten Jahren in Deutschland verstärkt. Dahinter steht vielfach die Beobachtung und der Frust darüber, dass deren Ursachen und Folgen weder ausreichend aufgearbeitet noch bewältigt wurden. Im Gegenteil sind sie für viele Menschen im Alltag auf unterschiedliche Art und Weise präsent: zum Beispiel in der Schule und im Studium, im Berufsleben, auf der Straße, bei der Wohnungssuche, im Kontakt mit Polizei oder Behörden. Eine Studie der Universität Duisburg Essen zeigt, dass rassistische Vorstellungen in deutschen Behörden keine Ausnahmen, sondern weit verbreitet und strukturell verankert sind. Gleichzeitig nimmt laut Nationalem Diskriminierungs- und Rassismusmonitor in der Bevölkerung erfreulicherweise auch das Problembewusstsein und die Bereitschaft zu, sich für positive Veränderungen zu engagieren.

Rassismus und Kolonialismus haben sich im Laufe der Geschichte gegenseitig beeinflusst. Rassismus war Legitimationsgrundlage für den Kolonialismus und gleichzeitig wird der heutige Rassismus als ein Erbe des Kolonialismus angesehen (Video des RBB zum deutschen Kolonialismus und heutigen Rassismus in Deutschland). Mit dem formellen Ende der Fremdherrschaft über Kolonien endete weder das Machtungleichgewicht noch die Ausbeutung von oder die Einstellung gegenüber den kolonisierten Menschen. Dies zeigt sich bis heute zum Beispiel auch sprachlich, wie Dr. Susan Arndt in einem Artikel für die Bundeszentrale für politische Bildung darstellt.

Welchen Zusammenhang gibt es zwischen Entwicklungszusammenarbeit und Kolonialismus?

Die Entwicklungszusammenarbeit ist eng mit dem europäischen Kolonialismus verflochten. Die Vorstellung, kolonisierten Ländern „Hilfe“ zu leisten, sollte einst den Herrschaftsanspruch legitimieren und nach dem Ende der Fremdherrschaft für entstandenes Leid entschädigen. Auch die heutige Weltordnung und die Schwierigkeiten auf dem Weg zu einer gerechteren und nachhaltigeren Welt haben Verbindungen zum Kolonialismus. So wird etwa das große Machtungleichgewicht zwischen den ehemaligen Kolonialmächten und den ehemaligen Kolonien von einigen Forscher_innen als einer der Gründe für das Fortbestehen globaler Ungleichheit und Armut angesehen. Der finanzielle Wert der strukturellen Ausbeutung des Globalen Südens nach dem Ende der Kolonialzeit sei, so das Forscherteam um Jason Hickel von der London School of Economics, 30 Mal höher als die vom Norden geleistete „Entwicklungshilfe“. Die Veränderung von Handels-, Steuer- und Finanzsystemen ist deshalb ein sehr wichtiger Teil, um nicht nur das Erbe des Kolonialismus, sondern auch globale Ungerechtigkeiten generell überwinden zu können.

Was können NRO tun?

Um die positiven Erfolge zu erreichen, die entwicklungspolitische Vorhaben verfolgen, müssen viele Nichtregierungsorganisationen (NRO) ihre eigene Organisations- und Arbeitsweise kritisch reflektieren und überdenken. Nana Asantewa Afadzinu, Geschäftsführerin des West Africa Civil Society Institute (WACSI), formuliert das Problem so: „Der Kolonialismus hat die Struktur der Entwicklungszusammenarbeit und die Art und Weise, wie sie durchgeführt wird, stark geprägt. Er ist bestimmend dafür, wer die Entscheidungen trifft. Er ist bestimmend dafür, wer als kompetent und als Expert_in gilt. Er ist bestimmend dafür, wessen Ressourcen als wichtig angesehen und wertgeschätzt werden. Er ist bestimmend dafür, wer die Maßstäbe für Erfolg setzt und bewertet, ob diese Ziele erreicht werden. Er ist bestimmend für die Definition von Risiken und dafür, wer als am meisten gefährdet gilt. In der Logik der kolonialen Ordnung müssen Afrika und Akteur_innen im Globalen Süden bemitleidet und gerettet werden und gelten nicht als kompetent und vertrauenswürdig. Die Ressourcen der Kolonisierten werden überwiegend ausgebeutet, ohne ihren Wert anzuerkennen oder – wo das doch geschieht – ihn den lokalen Akteur_innen zuzuschreiben.“

Gleichzeitig stellt Afadzinu fest, dass Entwicklungszusammenarbeit per se nicht falsch ist, sondern im Gegenteil weiter ausgebaut werden sollte. Allerdings stellt sie auch fest: „Wenn wir es ernst meinen mit nachhaltiger Entwicklung, braucht es zunächst das Eingeständnis, dass das System mangelhaft ist und verbessert werden muss.“

Mit dem Erbe des Kolonialismus beschäftigt sich die entwicklungspolitische und humanitäre Szene zunehmend – wie zum Beispiel auf dem VENRO Forum 2021, im Rahmen eines Online-Seminars zu machtsensiblen Süd-Nord-Partnerschaften oder in diesem Blogbeitrag zu postkolonialen und rassismuskritischen Ansätzen von Lara Fedorchenko.

Die VENRO-Mitgliederversammlung hat im Dezember 2022 mit der neuen Strategie 2023 – 2028 beschlossen, sich im Verband dafür einzusetzen, „Rassismus und kolonial geprägte Machtverhältnisse durch ein postkoloniales Verständnis in der entwicklungspolitischen und humanitären Arbeit zu überwinden“.

Wie dies in der praktischen Arbeit von NRO aussehen kann, hat Katja Dombrowski für uns anhand einiger Beispiele in unserem NRO-Report „Shifting Power: Wie entwicklungspolitische und humanitäre Nichtregierungsorganisationen den Folgen von Kolonialismus in ihrer Arbeit begegnen können“ zusammengetragen. Der Bericht soll Impulse für große und kleine Veränderungsprozesse geben. Weitere Angebote wie Fortbildungen, Workshops und Handreichungen befinden sich in Planung.