Politik

„Nur die Hälfte der Weltbevölkerung ist gegen Krankheit und Arbeitslosigkeit abgesichert“

Die Staaten haben sich verpflichtet, über Sozialversicherungen, Sozialhilfeprogramme oder andere Schutzmaßnahmen alle Menschen in ihrem Staatsgebiet gegen soziale Risiken abzusichern, die im Lebenszyklus auftreten können. Diese Verpflichtung ist in den Menschenrechtsabkommen der Vereinten Nationen verankert. Carsten Montag, stellvertretender Vorstandsvorsitzender von VENRO, zeigt im Interview auf, wie das Menschenrecht auf soziale Sicherheit verwirklicht werden kann.

Herr Montag, mit der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung hat die Staatengemeinschaft sich im Jahr 2015 das Ziel gesetzt, soziale Grundsicherung für alle innerhalb von fünfzehn Jahren zu erreichen. In wie vielen Ländern gibt es eine soziale Absicherung?

Nur rund 47 Prozent der Weltbevölkerung, das heiß weniger als die Hälfte, sind gegen Krankheit und Arbeitslosigkeit abgesichert. Besonders Kinder und Menschen mit Behinderungen sind kaum geschützt. Nur 26 Prozent der unter 15-Jährigen und nur eine von drei Personen mit Behinderungen erhält Leistungen der sozialen Sicherung. Aufgrund des großen informellen Sektors sind auch nur 35 Prozent der Arbeiter_innen für Arbeitsunfälle abgesichert und weniger als 20 Prozent erhalten Unterstützung bei Arbeitslosigkeit. Das sind die Zahlen aus dem SDG Progress Report 2023.

Welche Ursachen gibt es für die mangelhafte Absicherung?

Insbesondere Niedrigeinkommensländer können die erforderlichen finanziellen Mittel nicht vollständig aus eigenen Ressourcen aufbringen. Hierfür müssten nationale Steuereinnahmen durch entsprechende Reformen erhöht werden. Damit wir jedoch auch international Steuergerechtigkeit erleben, müssen transnationale Unternehmen dort Steuern zahlen, wo sie tätig sind. Solange eine Finanzierung aus den nationalen Haushalten nicht in angemessenem Umfang gewährleistet ist, müssen wir die Niedrigeinkommensländer durch eine internationale Finanzierung unterstützen.

Wie könnte eine solche internationale Finanzierung aussehen?

Ein Globaler Fonds für Soziale Sicherheit kann dazu beitragen, Armut zu verringern und das Menschenrecht auf soziale Sicherheit zu erreichen. Ein solcher Fonds würde den Auf- und Ausbau sozialer Grundsicherung befördern, Sozialprogramme vorübergehend kofinanzieren und diese in Krisenzeiten im Sinne einer globalen Risikogemeinschaft und nach dem sozialpolitischen Solidaritätsprinzip absichern. Die Mittel für den Fonds müssen aus unterschiedlichen Quellen zusammengeführt werden. Natürlich kann ein solcher Fonds nationale Anstrengungen zur Finanzierung von sozialer Sicherheit nicht ersetzen, aber in jedem Fall nachhaltig ergänzen.

Welche Anforderungen sollte ein Globaler Fonds für Soziale Sicherheit erfüllen?

Der Fonds müsste als eine langfristige, verlässliche Unterstützung aufgelegt sein, um die Partnerländer in die Lage zu versetzen, rechtebasierte soziale Sicherungssysteme aufzubauen. Dabei ist es wichtig, die finanzielle Unterstützung inklusiv und insbesondere auf die Bedarfe von Ländern mit niedrigen Einkommen auszurichten.

Und wer entscheidet dann über die Vergabe der Mittel?

Die Governance-Strukturen des Fonds müssen so gestaltet sein, dass Entscheidungen über den Mitteleinsatz gleichberechtigt von den Regierungen der beitragenden Staaten und der Länder getroffen werden, die Fondsmittel benötigen. Zudem müssen zivilgesellschaftliche Vertreter_innen aus den Partnerländern die Möglichkeit haben, sich umfassend in die Entscheidungs- und Kontrollverfahren des Fonds einzubringen, um deren Perspektive einfließen zu lassen und den notwendigen Rückhalt in der jeweiligen Gesellschaft zu gewährleisten.

Wie lässt sich ein solcher Fonds finanzieren?

Die Mittel für den Fonds könnten aus unterschiedlichen Quellen zusammengeführt werden. Finanzierungsquellen wie eine Finanztransaktions-, Unternehmens-, Vermögens- oder CO2-Steuer sollten genutzt werden. Wichtig ist vor allem, dass es sich dabei um zusätzliche Mittel handelt. In keinem Fall sollten Mittel zur Förderung der Entwicklungszusammenarbeit umgewidmet werden, da ein solcher Schritt die Schwächung anderer sozialer Sektoren bedeute.

Sollte die Auszahlung an Konditionen geknüpft sein?

Die internationale Unterstützung darf auf keinen Fall zu einer zusätzlichen Verschuldung führen. Die Leistungen an die Länder muss daher auf Basis von Zuschüssen erfolgen. Sie dürfen nicht an Konditionen gebunden sein, die über die Empfehlung 202 der Internationalen Arbeitsorganisation hinausgehen. Gleichzeit muss die Mittelvergabe gemeinsam von Geber- und Empfängerseite effektiv kontrolliert werden.

Soziale Sicherheit ist nur mit internationaler Finanzierung erreichbar. Lesen Sie hierzu ergänzend auch unseren Standpunkt, in dem wir die Anforderungen an einen internationalen Finanzierungsmechanismus konkretisieren.