Politik

Die Bedingungen zur Lieferung von Hilfsgütern in Gaza sind völkerrechtswidrig

Im Gazastreifen genügen die verteilten Hilfsmittel hinten und vorne nicht, um eine Hungerkatastrophe abzuwenden. Weil Israels Regierung ihren humanitären Verpflichtungen nicht nachkommt, muss die internationale Gemeinschaft dringend handeln.

20 Monate nach Beginn der Kriegshandlungen bietet sich in Gaza ein Bild der Verwüstung, dessen Ausmaß schwer in Worte zu fassen ist. Die Lage für die Zivilbevölkerung ist katastrophal: Laut dem dortigen Gesundheitsministerium wurden bis zum 25. Juni 2025 mehr als 56.000 Menschen getötet und über 132.000 Menschen verletzt. Hunderttausende Zivilist_innen sind Binnenflüchtlinge, viele wurden mehrmals vertrieben; es fehlt am Allernötigsten. Das Gesundheitssystem steht vor dem Kollaps, ein Großteil der zivilen Infrastruktur liegt in Trümmern, ganze Wohnblöcke wurden dem Erdboden gleichgemacht.

Immer wieder blockiert die israelische Regierung die Einfuhr von überlebensnotwendigen Hilfsgütern wie Lebens- und Arzneimitteln sowie Treibstoff – zuletzt vom 2. März bis zum 19. Mai, mehr als elf Wochen lang. Die Auswirkungen auf die Menschen vor Ort sind verheerend: Laut einer Studie der Integrated Food Security Phase Classification (IPC), der führenden Instanz zum Thema Ernährungssicherheit, ist die gesamte Bevölkerung von Versorgungsunsicherheit, Mangelernährung und Hunger betroffen; jeder fünften Person droht der Hungertod.

Verteilte Hilfsmittel sind völlig unzureichend

Seit Ende Mai – einhergehend mit einer Ausweitung der israelischen Militäroffensive in Gaza unter dem Namen „Gideons Streitwagen“ – läuft die Verteilung von Hilfsgütern nicht mehr wie bisher primär über die Vereinten Nationen (UN) sowie andere unparteiliche humanitäre Organisationen, sondern unter von Israels Regierung angeordneten Bedingungen über die sogenannte „Gaza Humanitarian Foundation“ mit Sitz in den USA.

Diese „Stiftung“ ist der einzige Akteur, der bislang den israelischen Bedingungen zugestimmt hat und diese umsetzt – hauptsächlich werden Lebensmittel an die Bevölkerung verteilt. Dies geschieht ausschließlich an nur vier von Israels Regierung bestimmten „Verteilungszentren“ im Süden und im Zentrum des Gazastreifens; bewaffnete Angehörige privater Sicherheitsdienste kontrollieren den Zugang, das israelische Militär das unmittelbare Umfeld. Immer wieder bleiben die „Verteilungszentren“ geschlossen, Zugangswege werden vom israelischen Militär zu Sperrzonen deklariert. Hilfesuchende müssen weite Strecken zurücklegen, während beispielsweise Kinder, Menschen mit Behinderung, alte und kranke Menschen sowie die Bevölkerung im schwer umkämpften und belagerten Norden faktisch leer ausgehen.

Die Vereinten Nationen, Drittstaaten und Nichtregierungsorganisationen üben schwerwiegende Kritik am Vorgehen der israelischen Regierung: Die verteilten Hilfsmittel seien nach Umfang und Art völlig unzureichend und genügten nicht, um eine Hungerkatastrophe abzuwenden. Darüber hinaus entsprächen die von der israelischen Regierung auferlegten Bedingungen laut UN nicht den humanitären Prinzipien von „Unparteilichkeit, Neutralität und Unabhängigkeit“ – dabei hätten die Vereinten Nationen und deren humanitäre Partnerorganisationen angeboten, über ein jahrzehntelang bewährtes System nach Maßgabe jener Prinzipien umfangreiche Hilfe zu leisten.

Hunderte Tode im Umkreis der „Verteilungszentren“

Zudem wird für die Hilfesuchenden die Entgegennahme der Hilfsmittel oft zu einem lebensgefährlichen Unterfangen: Laut dem Gesundheitsministerium in Gaza wurden bereits Hunderte Palästinenser_innen im Umkreis der „Verteilungszentren“ vom israelischen Militär getötet und Tausende verletzt. Dies geht ebenfalls aus Augenzeugenberichten sowie den eigenen Angaben des Militärs hervor, am 24. Juni 2025 berichtete zudem das Büro des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte darüber.

Ein am 27. Juni in der israelischen Tageszeitung Ha’aretz veröffentlichtes Exposé – basierend auf Interviews mit israelischen Soldat_innen – legt nahe, dass auf Geheiß von Kommandant_innen auf Zivilpersonen gezielt wurde, obwohl diese keinerlei Bedrohung darstellten.

Aus völkerrechtlicher Sicht ist die Bewertung eindeutig, wie in der jüngsten Analyse des International Humanitarian Law Centre ausführlich begründet wird: Das von Israels Regierung angeordnete System zur Lieferung von Hilfsgütern in Gaza ist nicht mit den internationalen Verpflichtungen des Landes vereinbar – insbesondere nicht mit dem humanitären Völkerrecht, welches bewaffnete Konflikte regelt.

Der Internationale Gerichtshof hat in seinem Gutachten zu den rechtlichen Folgen von Israels Besatzungspolitik vom 19. Juli 2024 bestätigt, dass Israels besatzungsrechtliche Verpflichtungen in Gaza „dem Grad seiner tatsächlichen Kontrolle entsprechen“. Schon vor Beginn der Kriegshandlungen im Oktober 2023 übte Israel erheblichen Einfluss auf die Lebensbedingungen in Gaza aus, zum Beispiel durch die Kontrolle des Luftraums, der Landesgrenzen, der Zwölfmeilenzone sowie der Ein- und Ausreise von Personen. Durch die mit Israels Bodenoffensive einhergehende Präsenz militärischer Streitkräfte haben diese Kontrolle und damit korrespondierend auch Israels Verpflichtungen gemäß Besatzungsrecht deutlich zugenommen.

Israels Regierung kommt humanitären Verpflichtungen nicht nach

Laut humanitärem Völkerrecht trägt Israel als Besatzungsmacht im Gazastreifen die Hauptverantwortung für die Sicherstellung von Lebens- und Arzneimitteln zur Versorgung der Bevölkerung. Dass die israelische Regierung dieser Verpflichtung nicht in genügendem Maße nachkommt, lässt sich anhand einer Vielzahl übereinstimmender Berichte über eine drohende Hungerkatastrophe, das kollabierte Gesundheitssystem und die fehlende Grundversorgung eindeutig feststellen.

Des Weiteren sieht das humanitäre Völkerrecht vor, dass die Besatzungsmacht im Falle einer mangelnden Versorgung der Bevölkerung Hilfsaktionen Dritter zustimmt, diese gewähren lässt und unterstützt. Die von der israelischen Regierung geschaffenen Bedingungen zur Lieferung von Hilfsgütern in Gaza – zum Beispiel die nicht ausreichende Menge an Lebensmitteln, die eingeschränkte Art anderer Hilfsmittel sowie die Verteilung ausschließlich an bestimmten Orten unter Ausschluss eines Großteils der Bevölkerung – sind erwiesenermaßen nicht geeignet, um die Notlage der Zivilbevölkerung zu mindern und erfüllen daher nicht Israels Verpflichtung, Hilfsaktionen gewähren zu lassen und zu unterstützen.

Hinzu kommt, dass die israelische Regierung trotz der offensichtlichen Unterversorgung der Bevölkerung Angebote von unparteilichen Hilfsorganisationen größtenteils ausgeschlagen hat – seit der teilweisen Aufhebung der Blockade Ende Mai konnten die Vereinten Nationen sowie andere unparteiliche humanitäre Organisationen nur in sehr eingeschränktem Maße Hilfslieferungen organisieren. Humanitäre Hilfe zur Wiederherstellung der zerstörten öffentlichen Infrastruktur kann kaum geleistet werden, die Bewegungsfreiheit humanitärer Helfer_innen ist stark eingeschränkt. Diese drastischen Beschränkungen lassen sich nicht mit Israels Verpflichtung vereinbaren, Hilfsaktionen von unparteilichen humanitären Organisationen zuzustimmen.

Vertreibung und Aushungern als Mittel der Kriegsführung

Die von der israelischen Regierung geschaffenen Bedingungen für Hilfslieferungen in Gaza scheinen zudem zu weiteren Verstößen gegen das Völkerrecht beizutragen – wie beispielsweise das Aushungern der Zivilbevölkerung als Mittel der Kriegsführung. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag erließ im November letzten Jahres Haftbefehl gegen Israels Premier Netanjahu sowie den ehemaligen israelischen Verteidigungsminister Yoav Gallant wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, unter anderem auch wegen des Aushungerns der Zivilbevölkerung als Mittel der Kriegsführung. Einer vom Hungertod bedrohten Bevölkerung die ausreichende Menge an Hilfsgütern zu verweigern, scheint diesem Verhaltensmuster zu folgen.

Zusätzlich tragen die von Israels Regierung geschaffenen Bedingungen zur Vertreibung der Bevölkerung hin zu den „Verteilungszentren“ im Süden und Zentrum des Gazastreifens bei. Bereits zu Beginn der Operation „Gideons Streitwagen“ gab Netanjahu das Ziel aus, die Bevölkerung im Süden des Gazastreifens zu konzentrieren. Es wurde auch von Seiten der israelischen Regierung über Absichten berichtet, die palästinensische Bevölkerung dauerhaft aus Gaza zu vertreiben, was Befürchtungen einer ethnischen Säuberung aufwirft.

Die Genfer Konventionen verbieten es einer Besatzungsmacht, die Bevölkerung zwangsweise innerhalb der Grenzen des besetzten Gebietes umzusiedeln oder jenseits der Landesgrenzen in ein anderes Gebiet zu deportieren. Dazu zählt auch das Schaffen von widrigen Bedingungen („coercive environment“), welche den Betroffenen diesbezüglich keine andere Wahl lassen.

Zivilbevölkerung steht vor einer unmöglichen Wahl

Die israelische Regierung missachtet des Weiteren ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen zur Respektierung und zum Schutz von Zivilist_innen. Die Todes- und Verletzungsfälle in der Nähe der „Verteilungszentren“ scheinen sich oft auf Anwendung exzessiver Gewalt durch das israelische Militär zurückführen zu lassen. Wenn das Militär in Gebieten unter seiner Kontrolle beispielsweise versucht, Zugangsbeschränkungen durchzusetzen oder Menschenmengen zu steuern, gelten Standards, die sich aus internationalen Menschenrechtsnormen ableiten – der Einsatz von Gewalt, die schwere oder gar tödliche Verletzungen verursachen kann, ist nur im äußersten Notfall bei unmittelbarer Gefahr für Leib und Leben gestattet. Dass eine solche Bedrohung in allen Fällen vorlag, muss anhand der vorliegenden Berichterstattung stark in Zweifel gezogen werden.

Die von der israelischen Regierung im Gazastreifen geschaffenen Bedingungen stellen die Zivilbevölkerung vor eine unmögliche Wahl: Tod durch Verhungern oder mangelnde medizinische Versorgung; an den „Verteilungszentren“ erschossen oder unter einstürzenden Gebäuden begraben zu werden.

Jetzt ist die Staatengemeinschaft gefragt!

Die internationale Gemeinschaft muss dafür sorgen, dass Hilfslieferungen in angemessenem Umfang alle Hilfesuchenden in Gaza erreichen und dass das Überleben der palästinensischen Bevölkerung sichergestellt wird. Drittstaaten sind verpflichtet, die Einhaltung des humanitären Völkerrechts durchzusetzen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie Völkermord zu verhindern.

Falls solche Verstöße oder ein Risiko solcher Verstöße – wie in Gaza – vorliegen, leiten sich aus diesen Verpflichtungen konkrete Handlungsmaxime ab: Drittstaaten sollten unter diesen Umständen keine Waffenlieferungen an die entsprechende Kriegspartei vornehmen und alle rechtmäßig zur Verfügung stehenden diplomatischen und wirtschaftlichen Mittel einsetzen, um deren Verhalten wieder völkerrechtskonform zu gestalten. Täter_innen mutmaßlicher Völkerrechtsverbrechen müssen strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen werden.

Besondere Bedeutung kommt auch dem Schutz der Zivilgesellschaft sowie humanitärer Akteur_innen zu, die versuchen, unter katastrophalen Bedingungen humanitäre Hilfe zu leisten und mutmaßliche Völkerrechtsverletzungen zu dokumentieren.


Dr. Elvina Pothelet ist als Senior Legal Advisor und Legal Team Coordinator im Israel- und Palästina-Team des International Humanitarian Law Centre tätig. Anna-Christina Schmidl ist als Legal Advisor im Israel- und Palästina-Team des International Humanitarian Law Centre tätig.

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