Politik

Europas Umgang mit der zivilen Seenotrettung – Unterstützung oder Kriminalisierung?

Ein Kommentar der europäischen Seenotrettungsorganisation SOS MEDITERRANEE

Am vergangenen Mittwoch erlaubte die maltesische Regierung mit der Unterstützung von sechs europäischen Ländern, darunter Deutschland, nach fast fünftägigem Warten auf hoher See unserem Rettungsschiff Aquarius mit 141 Überlebenden an Bord die Einfahrt in den Hafen von Valletta in Malta. Fast die Hälfte der Geretteten waren Minderjährige aus Somalia und Eritrea. Tagelang trieb die Aquarius, das gemeinsam von Ärzte ohne Grenzen und SOS MEDITERRANEE betriebene Rettungsschiff, auf hoher See zwischen Malta und Italien, weil zunächst kein europäisches Land sie aufnehmen wollte. Nicht zum ersten Mal: Erst im Juni musste die Aquarius mit über 600 Überlebenden an Bord eine knappe Woche auf See ausharren, bis sich die spanische Regierung bereiterklärte, die Aquarius die Einfahrt nach Valencia zu erlauben. Italien und auch Malta hatten die Aufnahme als nächstgelegene Häfen verweigert.

Was in beiden Fällen als „humanitärer Akt“ und „konkretes Beispiel für europäische Solidarität“ bezeichnet wurde, offenbart, wie unberechenbar die Lage im Mittelmeer für die zivilen Seenotretter_innen inzwischen geworden ist. Zugleich führt die Anerkennung der libyschen Seenotleitstelle sowie der libyschen Küstenwache durch die europäischen Regierungen dazu, dass aus Libyen flüchtende Menschen oftmals wieder zurückgeführt werden. Die Tatsache, dass in den letzten Monaten immer weniger Seenotrettungsorganisationen ihre lebensrettenden Arbeiten auf dem Mittelmeer durchführen konnten, hatte den Tod von über 700 Menschen zur Folge, die auf ihrer Flucht über das Mittelmeer ertranken.

Seenotrettung ist nicht nur Pflicht, sondern auch moralisches Gebot

Seit 2015 haben zivile Seenotrettungsorganisationen im zentralen Mittelmeer Zehntausende Menschen vor dem Ertrinken gerettet. Die Rettung Schiffbrüchiger und ihr Anlanden in einem sicheren Ort sind nicht nur eine seerechtlich verankerte Pflicht, sondern auch ein moralisches Gebot. Allein die Aquarius hat bis heute 29.000 Menschen vor dem Ertrinken gerettet.

In den letzten Monaten haben die europäischen Mitgliedsstaaten die Arbeit humanitärer Organisationen zunehmend behindert. Rettungsschiffe wurden unter fadenscheinigen Argumenten festgesetzt, Italien hat seine Häfen für Seenotrettungsorganisationen komplett geschlossen. Wie dringend die zivilen Rettungsschiffe jedoch noch immer gebraucht werden, haben die vergangenen Tage gezeigt, in denen wir nicht nur 141 Menschen aus zwei kaputten Holzbooten retten konnten, sondern auch Funksprüche über Seenotfälle mitgehört haben. Je weniger Rettungskapazitäten, desto mehr Tote – denn die Menschen flüchten weiter vor der Situation in den Herkunfts- und Transitländern, insbesondere in Libyen.

Währenddessen setzen die europäischen Mitgliedsstaaten in Abwesenheit einer gemeinsamen und solidarischen Antwort auf die humanitäre Tragödie im Mittelmeer auf die Kooperation mit fragwürdigen Akteuren wie der libyschen Küstenwache. Diese hat seit Jahresbeginn etwa 10.000 Menschen auf dem Mittelmeer abgefangen und zurück nach Libyen gebracht, wo sie oftmals in Internierungslagern gefangen und schwersten Misshandlungen ausgesetzt sind. SOS MEDITERRANEE wurde in der Vergangenheit wiederholt Zeugin, wie die libysche Küstenwache Menschen auf hoher See abfängt, gegen ihren Willen zurück nach Libyen bringt, und dabei das Leben von Flüchtenden in Gefahr bringt. Das Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen gegen Flüchtende und Migrant_innen in Libyen ist umfassend dokumentiert.

Die Aquarius muss schnellstmöglich ins Mittelmeer zurückkehren

Als humanitäre Organisation sind wir entsetzt über die Politik der europäischen Regierungen, die internationales Seerecht missachtet und die humanitäre Hilfe auf See behindert. Solange die EU nicht in der Lage ist, ein europäisches Seenotrettungsprogramm zu etablieren, müssen die europäischen Regierungen Rettungsschiffen im Einklang mit internationalem Seerecht ohne Verzögerung einen sicheren Hafen bereitstellen. Die Menschen, die wir mit der Aquarius retten – oft unbegleitete Minderjährige, die in Libyen Opfer physischer Gewalt bis hin zur Folter wurden – sind besonders schutzbedürftig und bedürfen einer schnellen und angemessen Versorgung, die nur an Land sichergestellt werden kann. Nordafrikanische Staaten wie Libyen sind dazu nicht in der Lage.

Darüber hinaus müssen die europäischen Mitgliedsstaaten, allen voran die deutsche Bundesregierung, die lebensrettende Rolle der zivilen Rettungsorganisationen anerkennen und sich entschlossen gegen die Kriminalisierung von Flucht und humanitärer Hilfe im Mittelmeer stellen. Wenn die zivilen Retter_innen weiter behindert werden, wird es nicht nur weniger Schiffe geben, um Menschen aus Seenot zu retten, sondern auch weniger Möglichkeiten, das tatsächliche Ausmaß des Sterbens im Mittelmeer zu bezeugen.

Es wird sich zeigen müssen, ob die Antwort Maltas und einiger aufnahmewilliger europäischer Staaten künftig als Blaupause für eine gesamteuropäische Lösung dienen kann. Was hingegen feststeht, ist, dass die Aquarius schnellstmöglich ins Mittelmeer vor die libysche Küste zurückkehren muss. Denn solange Menschen weiterhin ihr Leben riskieren, um vor der Gewalt in ihren Herkunftsländern und Libyen zu fliehen, muss humanitären Organisationen der Zugang im Mittelmeer gewährt werden.