Soziale Sicherheit ist ein Menschenrecht, verantwortlich für die Gewährleistung ist der Staat. Dafür spricht vieles, denn das in der Sozialpolitik zentrale Solidarprinzip wirkt dann besonders gut, wenn alle gesellschaftlichen Gruppen füreinander einstehen. Hat die Zivilgesellschaft da noch eine Rolle?
Die Zivilgesellschaft hat nicht nur eine Rolle in der sozialen Sicherheit, sondern viele. Nicht zufällig haben zivilgesellschaftliche Organisationen eine lange Geschichte als soziale Dienstleister. In vielen Ländern ist ihr Angebot an Leistungen der sozialen Absicherung und gesundheitlichen Versorgung weiterhin umfangreicher als das staatlicher Stellen. Während sie in einigen Kontexten notgedrungen fehlendes staatliches Handeln ersetzen, bieten sie in anderen Ländern Dienstleistungen als integralen Bestandteil des öffentlich finanzierten Sozialsystems an. Oder sie übernehmen ergänzende Aufgaben, um komplexe Situationen von Armut und Ausgrenzung besser zu bewältigen. Ganz im Sinne des Subsidiaritätsprinzips können zivilgesellschaftliche Organisationen oder Gemeinden dies aufgrund ihrer Nähe zu den Menschen nicht selten sogar besser als weiter entfernte staatliche Institutionen.
Dabei ist aber die Bereitstellung von Dienstleistungen bei weitem nicht der einzige Beitrag der breiten Vielfalt zivilgesellschaftlicher Akteure im Bereich sozialer Sicherheit. Selbsthilfegruppen, gemeindebasierte Organisationen, glaubensbasierte Akteure, Advocacy-Gruppen und soziale Bewegungen – so vielfältig wie die Organisationen, die die Zivilgesellschaft ausmachen, sind auch die Rollen, die sie übernehmen. Sie intervenieren als politische Akteure in allen Phasen des Politikzyklus der sozialen Sicherheit.
Zivilgesellschaft als politischer Akteur
Zivilgesellschaftliche Organisationen tragen mit ihrem Einblick in die speziellen Lebenslagen von benachteiligten Menschen zur Problemidentifikation und -analyse bei. Sie stärken Menschen und Gemeinschaften, ihre Forderungen im nationalen sozialen Dialog zum Ausdruck zu bringen. Dabei kommt Ihnen auch die wichtige Rolle zu, die Aufmerksamkeit immer wieder auf strukturelle Ursachen von Armut und Ungleichheit zu lenken.
Viele Organisationen bringen darüber hinaus innovative Ideen für die Politikgestaltung mit ein. Sie informieren ausgeschlossene Gruppen über ihre Rechte und leisten praktische Unterstützung, um Zugangsbarrieren zu staatlichen Leistungen zu überwinden. Sie beobachten außerdem die Umsetzung von Sozialprogrammen vor Ort, verfolgen die staatlichen Sozialausgaben nach und spiegeln ihre Erkenntnisse an staatliche Institutionen zurück.
So initiierte die nationale zivilgesellschaftliche Plattform in Costa Rica beispielsweise einen sozialen Dialog über die mangelnde Absicherung von Hausangestellten und erreichte ihre Berücksichtigung in der sozialen Krankenversicherung. In Südafrika ermöglichten Basisorganisationen einen partizipativen Planungsprozess, der die Ausgestaltung von öffentlichen Beschäftigungsprogrammen den Bedarfen mehrfach benachteiligter Bevölkerungsgruppen anpassen konnte. Anstatt sich auf klassische Infrastrukturentwicklung zu beschränken, wurden beispielsweise Betreuungsmöglichkeiten für Kinder und ältere Menschen berücksichtigt. Dies eröffnete neue Chancen, insbesondere für diejenigen, die zuvor durch Sorgearbeit zu Hause gebunden waren. In Uganda, Kenia, Tansania und Mosambik haben sich organisierte Rentenempfänger_innen in der kritischen Begleitung von Sozialtransferprogrammen hervorgetan. Sie identifizierten schwer erreichbare Auszahlungsstellen oder Korruptionsfälle im Registrierungsprozess und forderten erfolgreich konkrete Verbesserungen ein.
Natürlich gilt es dabei jeweils kritisch zu hinterfragen, die Interessen welcher Gruppen hörbar gemacht werden. Sind bereits privilegierte Gruppen auch hier wiederum stärker organisiert und besser vertreten? Auch institutionelle Eigeninteressen zivilgesellschaftlicher Organisationen, die ihrer Rolle als Dienstleister geschuldet sind, können – müssen aber nicht – mit der politischen Rolle in den Widerspruch geraten.
Eine Voraussetzung für relevante politische Beiträge ist deshalb das Vorhandensein einer vielfältigen und gut untereinander vernetzten Zivilgesellschaft. Auf staatlicher Seite sind Rechtssicherheit, Transparenz, die Bereitstellung von Informationen und die Offenheit für sozialen Dialog notwendig. Dann kann eine engagierte Beteiligung der Zivilgesellschaft das Bewusstsein für die ermächtigende Funktion sozialer Rechte schärfen und den Aufbau und Erhalt sozialer Sicherungssysteme voranbringen.
Dieser Artikel basiert auf einer Veröffentlichung im „Handbook on Social Protection Systems“, in dem Nicola Wiebe das Thema als Co-Autorin im Detail und mit vielen hilfreichen Literaturhinweisen versehen ausführt.
Nicola Wiebe | Brot für die Welt |