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Entwicklungspolitik und ihre Wurzeln im Kolonialismus: Globale Gerechtigkeit oder kolonialer Machtausbau?

Die Grundlagen der Entwicklungspolitik liegen im Kolonialismus. Aber auch noch heute wirken koloniale Strukturen nach und bestimmen die globalen Machtverhältnisse mit. Um strukturelle Ungleichheit anzugehen, braucht es deshalb einen Perspektivwechsel: Postkoloniale und rassismuskritische Ansätze können dabei helfen, Entwicklung als gemeinschaftlichen globalen Prozess begreifen.

Entwicklungspolitik setzt sich das Ziel, zu einer gerechteren Gestaltung der Welt beizutragen. Der Slogan »leave no one behind« aus den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen (UN) macht deutlich, dass das nur unter Beteiligung aller Menschen geschehen kann. Gleichzeitig sieht sich die Entwicklungspolitik immer wieder mit der Frage konfrontiert, inwiefern sie selbst ungleiche globale Strukturen aufrechterhält oder sogar reproduziert. Wer sich wagt, einen Blick zurück in die Geschichte zu werfen, dem wird schnell bewusst, dass globale Gerechtigkeit und Entwicklungspolitik historisch eher schwierig zusammenzubringen waren. Denn die Grundlagen der Entwicklungspolitik liegen im Kolonialismus.

Im späten Kolonialismus, ungefähr nach dem ersten Weltkrieg, löste der Begriff der ›Entwicklung‹ die Erzählung von der »Zivilisierung fremder Gesellschaften« ab. Die Behauptung, einer »civilizing mission« oder »mission civilatrize« verpflichtet zu sein, diente bis dahin kolonialen Großmächten dazu, ihren Imperialismus gegenüber den Ländern des Globalen Südens zu rechtfertigen. Unterlegt wurde diese Argumentation durch rassistische Vorstellungen zur natürlichen Überlegenheit der weißen, westlichen Gesellschaft. Die Notwendigkeit, in Ländern des Globalen Südens durch koloniale Unternehmungen einzugreifen, wurde dadurch zur »White Man’s Burden«, der »Bürde des weißen Mannes« stilisiert.

Ein zeitgemäßes Verständnis von ›Entwicklung‹ ist nötig

Auch der Entwicklungsbegriff diente dem Globalen Norden weiterhin als Rechtfertigung für seine kolonialen Unternehmungen. Ausgangspunkt ist die Vorstellung eines Entwicklungsweges, der universell gültig ist und auf alle Gesellschaften angewendet werden kann. Diese Vorstellung von ›Entwicklung‹ wird als linearer Weg verstanden, der Richtung »Fortschritt« und »Moderne« führt. Dabei bildet der Globale Norden die Spitze der Entwicklungskette ab, während die Gesellschaften des Globalen Südens am unteren Ende verortet werden. Durch dieses Verständnis von ›Entwicklung‹ verschafft sich der Globale Norden die Deutungshoheit über Lösungen sozialer, wirtschaftlicher und politischer Probleme und legitimiert seine Entscheidungsmacht gegenüber Ländern des Globalen Südens.

Auch nach der formellen Unabhängigkeit der früheren Kolonien im letzten Jahrhundert wirken koloniale Strukturen bis heute nach und bestimmen die globalen Machtverhältnisse mit. Die durch den Kolonialismus gestaltete Machtasymmetrie zwischen Globalem Norden und Süden ist bis heute nicht zuletzt in der Entwicklungspolitik sichtbar. Das Verständnis von Entwicklungspolitik als Aufholprozess des Globalen Südens ist immer noch allgegenwärtig. Die Notwendigkeit zur Veränderung wird also im Globalen Süden verortet, der Globale Norden dient dabei als Vorbild nach dem es zu Streben gilt. Die strukturelle Verknüpfung unserer Welt und die Tatsache, dass die Ursachen globaler Probleme oft im Globalen Norden liegen, werden dabei außer Acht gelassen. Mit den Sustainable Development Goals (SDGs) hat die UN einen Ansatz gewählt, dieses Verständnis aufzuweichen und auch den Globalen Norden in die Pflicht zu nehmen. Dennoch sind koloniale Kontinuitäten in der Entwicklungspolitik nach wie vor existent.

Um strukturelle Ungleichheit anzugehen, bedarf es eines zeitgemäßen Verständnisses von ›Entwicklung‹, das auf einer kritischen Auseinandersetzung mit dem politischen und historischen Hintergrund beruht. Der Anspruch auf universelle Gültigkeit der ›Entwicklung‹ des Globalen Nordens, die Möglichkeit, diese Erfahrungen einfach auf den Globalen Süden zu übertragen, und darauf basierende Machtstrukturen sowie Deutungshoheiten müssen hinterfragt werden. Postkoloniale und rassismuskritische Ansätze können hier helfen, das kritische Entwicklungsverständnis in die praktische Entwicklungszusammenarbeit zu übersetzen.

Ansätze für die praktische Umsetzung einer postkolonialen Entwicklungszusammenarbeit

VENRO beschäftigt sich in einem Bericht über die Arbeit der Mitgliedsorganisationen aktuell mit Ansätzen für die praktische Umsetzung einer postkolonialen Entwicklungszusammenarbeit. Dieser wird in diesem Jahr erscheinen. Der Bericht beleuchtet Möglichkeiten in der zivilgesellschaftlichen Entwicklungszusammenarbeit, die dabei helfen, Machtverhältnisse kritisch zu hinterfragen und koloniale Strukturen aufzubrechen. So setzen sich Nichtregierungsorganisationen (NRO) mit Partnerschaftlichkeit in der Projektarbeit auseinander, um Zusammenarbeit auf Augenhöhe zu fördern und Entscheidungsmacht gleichmäßiger zu verteilen.

Dazu gehört auch, dass Entscheidungen über Vorgehen und Projekte lokalisiert werden durch die Einbindung von Organisationen und Akteur_innen vor Ort. Auch das Hinterfragen der eigenen Organisationsstrukturen, beispielsweise mit Blick auf die Benachteiligung von Black, Indigenous and People of Colour bei der Einstellung von Personal, sowie die Zusammenarbeit mit migrantisch-diasporischen Organisationen in Deutschland, kann ein Mittel sein. Schließlich ist die entwicklungspolitische Akteurslandschaft nach wie vor im Wesentlichen weiß geprägt.

Dabei ist klar, dass diese Versuche nur erste Ansätze sein können, die praktische Entwicklungszusammenarbeit machtkritisch zu hinterfragen und umzugestalten. Auf der strukturellen Ebene zeichnen sich jedoch stärkere Grenzen ab: solange die Verteilung der finanziellen Mittel auf der Welt so ungleich bleibt, der Globale Norden in der Geber- und der Globale Süden in der Nehmerrolle verhaftet bleiben, wird auch die Entscheidungsmacht über politische und gesellschaftliche Veränderungsprozesse asymmetrisch verteilt bleiben.

›Entwicklung‹ als gemeinschaftlichen globalen Prozess begreifen

Ein wesentlicher Ansatz für eine zeitgemäße und postkoloniale Entwicklungspolitik ist es, nicht nur Veränderungen in den Ländern des Globalen Südens, sondern Veränderungen in der eigenen Gesellschaft in den Blick zu nehmen. Schließlich ist unsere Wirtschafts- und Lebensweise direkt mit den sozialen und ökologischen Krisen dieser Welt verbunden. Was gebraucht wird, ist ein Perspektivenwechsel, damit die Fokussierung auf Veränderungen im Globalen Süden aufgehoben und ein ganzheitliches Verständnis von ›Entwicklung‹ als gemeinschaftlicher globaler Prozess entwickelt werden kann. Das bedeutet, das vorherrschende Narrativ von ›Entwicklung‹ umzudrehen und die Länder des Globalen Nordens ebenfalls als »Entwicklungsländer« – also als Länder, in denen Veränderungen stattfinden müssen – wahrzunehmen.

Eine wichtige Schlüsselrolle spielt in diesem Ansatz die entwicklungspolitische Inlandsarbeit. Zielgruppe der entwicklungspolitischen Inlandsarbeit sind die Menschen in Deutschland. Die Inlandsarbeit setzt sich aus der entwicklungspolitischen Öffentlichkeits-, Informations-, Bildungs- und Engagementarbeit zusammen. Sie informiert Menschen über globale Krisen und Zusammenhänge, sensibilisiert sie für globale Ungleichheiten und zeigt ihnen Möglichkeiten auf, selbst tätig zu werden und sich für eine gerechte und nachhaltige Weltgestaltung einzusetzen. Dabei setzt sie bei der Lebenswelt der Menschen in Deutschland an, zeigt die Verflechtungen der eigenen Handlungen, sowie globaler politischer und wirtschaftlicher Strukturen auf.

Postkoloniale Entwicklungspolitik braucht die notwendigen Rahmenbedingungen

Entwicklungspolitische Inlandsarbeit hat das Potenzial, einen Perspektivwechsel anzuregen. Dafür müssen die Angebote diskriminierungssensibel und rassismuskritisch gestaltet werden. Es dürfen keine rassistischen und kolonialen Stereotype verbreitet werden, indem beispielsweise Menschen im Globalen Süden als hilfsbedürftig oder als ›Opfer‹ dargestellt werden, statt als handlungsfähige Akteur_innen. Die strukturellen Ursachen von globaler Ungleichheit und ihre historischen Zusammenhänge müssen sichtbar gemacht werden. Um Bildungspraktiker_innen bei der Gestaltung von machtkritischen und postkolonialen Bildungsangeboten zu unterstützen, hat VENRO die »Qualitätskriterien für entwicklungspolitische Bildungsarbeit« 2021 aktualisiert. Sie bieten Praktiker_innen aus NRO eine Orientierungshilfe für die Gestaltung ihrer Bildungsangebote.

Damit die entwicklungspolitische Bildung ihren Beitrag zu einem postkolonialen Verständnis von Entwicklungspolitik leisten kann, braucht es aber auch die notwendigen politischen Rahmenbedingungen, die es den Bildungspraktiker_innen ermöglichen, die oben genannten Inhalte in ihrer Arbeit zu verankern. Die Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte und die kolonialen Kontinuitäten in der heutigen Entwicklungspolitik müssen dafür als wichtige Teile der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit anerkannt werden und über die der Förderung zugrunde liegenden inhaltlichen Konzepte in den Förderregularien verankert werden. VENRO forderte das im Aktualisierungsprozess des Konzepts »entwicklungspolitische Informations- und Bildungsarbeit« des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Das Konzept bildet die Grundlage für die finanzielle Förderung von Bildungsprojekten und ist daher auch für die Zivilgesellschaft handlungsleitend. Die Forderung wurde nicht aufgenommen. Eine explizite Hervorhebung und eine klare Anerkennung des Themenfeldes hätten ein deutliches Zeichen für ein zukunftsweisendes und kritisches Verständnis von Entwicklungspolitik gesetzt.

Eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem neuen BMZ-Konzept »Entwicklungspolitische Informations- und Bildungsarbeit« finden Sie auf dem VENRO-Blog. Die VENRO-Qualitätskriterien für entwicklungspolitische Bildungsarbeit finden Sie auf unserer Webseite.


Lara Fedorchenko ist Referentin im Bereich Stärkung der Zivilgesellschaft bei VENRO.

Hinweis: Dieser Blogbeitrag erschient in ähnlicher Form zuerst im “BBE-Newsletter für Engagement und Partizipation in Deutschland” des Bundesnetzwerks Bürgerschaftliches Engagement.