Mexiko gilt als eines der gefährlichsten Länder für Menschenrechtsverteidiger_innen und Journalist_innen weltweit. Die staatlichen Schutzmaßnahmen werden nur sehr mangelhaft umgesetzt. Zivilgesellschaftliche Organisationen wie Alunapsicosocial kritisieren das und setzen sich für die Rechte bedrohter und vertriebener Personen ein. Wie sich ihre Lage in den letzten Jahren verschärft hat und was sie sich von der internationalen Zivilgesellschaft wünschen, beschreiben wir in diesem Artikel.
In Mexiko wurden zwischen 2018 und 2022 mindestens 59 Morde an Journalist_innen und 107 Morde an Menschenrechtsverteidiger_innen gezählt – die allermeisten davon wurden nie aufgeklärt. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs: Journalist_innen und Menschenrechtsverteidiger_innen sind Hetzkampagnen ausgesetzt, sie werden eingeschüchtert, entführt, willkürlich festgenommen. Viele müssen fliehen und zählen so zu der großen Gruppe binnenvertriebener Menschen in Mexiko.
Frieden gibt es nur auf dem Papier
Bereits im Juni 2012 erließ die mexikanische Regierung, damals unter der Präsidentschaft von Felipe Calderón, ein Gesetz zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger_innen und Journalist_innen. Das Gesetz soll die Zusammenarbeit zwischen der Bundesebene und den lokalen föderalen Regierungen in den mexikanischen Bundesstaaten stärken, um Präventions- und Schutzmaßnahmen für bedrohte Menschenrechtsaktivist_innen und Journalist_innen umzusetzen. 17 der 32 Bundesstaaten Mexikos haben aktuell im Rahmen des Gesetzes Schutzmaßnahmen umgesetzt.
Zivilgesellschaftliche Organisationen wie Alunapsicosocial, eine Menschenrechtsorganisation in Mexiko City, kritisieren, dass in der Praxis Schutz- und Präventivmaßnahmen unzureichend umgesetzt werden. Clemencia Correa, Direktorin und Mitbegründerin von Alunapsicosocial beschreibt die aktuelle Menschenrechtslage in Mexiko: „Es gibt Frieden auf dem Papier, aber die Realität sieht anders aus.“ Es fehle an Personal und finanziellen Ressourcen. Die Zusammenarbeit zwischen Bundes- und lokalen Behörden funktioniere nicht gut genug. Zudem gebe es große Vertrauensprobleme. Die bedrohten Personen haben oft Angst, sich an die lokal zuständigen Stellen zu wenden. Verständlich, wenn man bedenkt, dass der größte Teil der dokumentierten Angriffe (45 Prozent) von den Beamten der staatlichen oder lokalen Behörden selbst ausgeht.
Manche Maßnahmen zur Umsetzung des Gesetzes erweisen sich sogar als kontraproduktiv – so beispielsweise, bedrohte Personen vorübergehend umzusiedeln. Per Gesetz darf diese Maßnahme erst dann ergriffen werden, wenn alle anderen Möglichkeiten, die bedrohte Person zu schützen, bereits von den Behörden ausgeschöpft wurden. Wird eine Umsiedlung notwendig, müssen alle möglichen Maßnahmen ergriffen werden, die Ursache der Bedrohung zu bekämpfen, sowie die vertriebene Person bestmöglich aufzufangen und ihr zu ermöglichen, ihre Arbeit fortzuführen. Doch gerade hier hapert es in der Praxis gewaltig, kritisiert Alunapsicosocial. Aus kurzfristigen Umsiedelungen werde oft langjährige Vertreibung. Paradoxerweise führe das dazu, dass die Schutzmechanismen zu dem Ziel derjenigen Personen beitragen, die Journalist_innen und Menschenrechtsverteidiger_innen einschüchtern wollen: sie werden aus ihren Kontexten vertrieben und arbeitsunfähig gemacht.
Gewalt wirkt sich auf gesamten sozialen Kontext aus
In dieser Gemengelage ist der Einsatz von zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Alunapsicosocial essentiell. Die Organisation wurde 2013 gemeinsam von Menschenrechtsverteidiger_innen und Expert_innen für psychische Gesundheit gegründet. Das spiegelt sich auch in ihrer Arbeit wider: Alunapsicosocial verfolgt einen psychosozialen Ansatz, der in den 1980er Jahren im Kontext des Widerstands gegen (politische) Gewalt in Lateinamerika entwickelt wurde. Organisationen, die mit dem psychosozialen Ansatz arbeiten, betrachten Gewalt nicht nur als emotionale und psychische Belastung der direkt betroffenen Personen. Vielmehr werden auch die Auswirkungen auf sozialer und kollektiver Ebene der Gemeinschaft in den Blick genommen und bearbeitet.
Schwerpunkt der Arbeit der Menschenrechtsorganisation ist die Hilfe und Unterstützung von (binnen-)vertriebenen Menschen und Migrant_innen in Mexiko. Alunapsicosocial unterstützt die betroffenen Personen und Personengruppen ganz direkt durch psychische Begleitung und baut Schulen auf, um psychosoziale Begleiter_innen auszubilden. Gleichzeitig zeigt Alunapsicosocial gesellschaftliche und politische Missstände auf, wie die mangelnde Umsetzung des staatlichen Schutzmechanismus und die fehlende Koordination zwischen den lokalen und bundesstaatlichen Autoritäten. Die Mitarbeitenden der Organisation formulieren Empfehlungen, wie von einem reaktiven zu einem präventiven Schutzmodell gelangt werden kann. Ein weiterer wichtiger Baustein ist die Vernetzungsarbeit. Alunapsicosocial vernetzt Menschenrechtsorganisationen in ganz Mexiko und sucht den Austausch mit anderen psychosozial arbeitenden Organisationen in Lateinamerika.
Menschenrechtslage verschärft sich
Am 12. November 2024 trafen sich zahlreiche mexikanische Menschenrechtsorganisationen in den Büroräumen von Alunapsicosocial in Mexiko City. Thema des Austauschs war die aktuelle Situation von (binnen-)vertriebenen Menschen und Migrant_innen in Mexiko. Dabei handelt es sich um zwei Personengruppen mit unterschiedlichen Bedarfen und Problemen, die sich teilweise überschneiden und aus menschenrechtlicher Perspektive gleichermaßen bedroht sind.
Zwangsvertreibung und Migration sind keine neuen Themen für Mexiko. Die Menschenrechtsorganisationen berichten aber, dass sich die Situation in den letzten Jahren verschärft und verändert hat. Schätzungen zu Folge gibt es heute ca. eine Million (binnen-)vertriebene Menschen und Migrant_innen in Mexiko. Waren früher meist Einzelpersonen unterwegs, sind es heute oft Familien oder ganze Dörfer. Auch Frauen und ältere Menschen migrieren vermehrt.
Gründe für diese vermehrte Migration und (Binnen-)Vertreibung sind vielfältig: Die Demokratiekrise in der Region südlich von Mexiko in Ländern wie Nicaragua führt dazu, dass vermehrt Menschen flüchten. Aber auch die Zunahme der Narcokriminalität – der organisierten Kriminalität im Kontext des Drogenhandels – führt zu verschärften territorialen Konflikten. Die Drogenkartelle brauchen Land, um Drogen anzubauen, und vertreiben die lokale Bevölkerung. Teilweise arbeiten die Behörden mit ihnen zusammen; die Grenzen zwischen staatlichen Akteur_innen und den Kartellen verschwimmen. Aber auch große Prestigeprojekte der Regierung, die den Tourismus und die Wirtschaft ankurbeln sollen, wie der Tren Maya, sorgen dafür, dass noch mehr Menschen vertrieben werden.
Die Menschenrechtsorganisationen beobachten gleichzeitig eine Verschärfung des Gewaltniveaus, dem Migrant_innen und (binnen-)vertriebene Menschen ausgesetzt sind. Seit 2006 kritisieren die Organisationen die fortschreitende Militarisierung der Sicherheitsbehörden in Mexiko. Die Narcokartelle nutzen neue Technologien und Waffen – wie Drohnen, die sie in den USA kaufen –, um die Kontrolle über Gebiete zu behalten. Migrationsrouten verändern sich und auf den neuen Routen gibt es keine Unterstützungsstrukturen, etwa sichere Unterkünfte, für Migrant_innen. Der Bedarf an psychischer und medizinischer Unterstützung für die betroffenen Personengruppen steigt. Gleichzeitig erschwert die Krise im Gesundheitssystem den Zugang zu medizinischer Behandlung und die Sparpolitik der Regierung führt dazu, dass soziale Institutionen, Organisationen und Einrichtungen nicht ausreichend ausgestattet sind, um die betroffenen Personen(-Gruppen) zu unterstützen und zu schützen. Besonders betroffen sind indigene Gruppen, sowohl von Zwangsvertreibung als auch von Gewalt. Sie sind insbesondere verletzlich, weil die bestehenden Schutzmechanismen nicht auf sie ausgelegt sind und teilweise schon an den Sprachbarrieren scheitern.
Ob sich durch die Amtszeit der neuen Präsidentin – Claudia Sheinbaum, die international als erste weibliche Präsidentin Mexikos 2024 begrüßt und gefeiert wurde – etwas ändert, muss sich noch zeigen. Bisher unternahm sie zumindest keine Bemühungen, sich mit den zivilgesellschaftlichen Organisationen an einen Tisch zu setzen. Alunapsicosocial zeigt sich daher zumindest skeptisch, dass aus ihrer Präsidentschaft für die Menschenrechtslage in Mexiko mehr als nur ein Symbol wird.
Es braucht mehr internationale Aufmerksamkeit
Die Menschenrechtslage in Mexiko zeigt: Gesetze alleine reichen nicht aus, sie müssen wirksam umgesetzt werden. Dafür braucht es auch die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft. Tatsächlich scheint die Aufmerksamkeit der internationalen Politik auf Mexiko eher zu sinken. Das liegt auch an den Erfolgen auf dem Papier: die erlassenen Gesetze zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger_innen und Journalist_innen, sowie der wirtschaftliche Aufschwung Mexikos lassen die Menschenrechtslage in Mexiko in einem guten Licht erscheinen. Die Arbeitsrealität von Menschenrechtsorganisationen wie Alunapsicosocial sieht jedoch nach wie vor anders aus.
Problematisch ist auch, dass global ein Diskurs erstarkt, der Menschenrechte in Frage stellt – insbesondere mit Blick auf Migrant_innen. Der Wahlsieg Donald Trumps und das Erstarken rechter Parteien in der Welt normalisieren den Diskurs des Hasses gegenüber Migrant_innen. Menschenrechtliche Grundsätze wie das Asylrecht in Frage zu stellen, ist salonfähig geworden. Asylsysteme, wie die in Mexiko und den USA, sind darauf ausgelegt, Menschen loszuwerden, statt sie und ihre Rechte zu schützen.
Die Verbindungen zwischen zivilgesellschaftlichen Organisationen in Deutschland und Mexiko sind nach wie vor stark. Sie bauen nicht zuletzt auf historischen Verbindungen auf, die im Rahmen der Solidaritätsbewegung in Deutschland gegenüber Lateinamerika in den 1970er Jahren geknüpft wurden. Darauf können Organisationen wie Alunapsicosocial bisher bauen. Alunapsicosocial arbeitet beispielsweise mit Brot für die Welt und dem Zivilen Friedensdienst zusammen. Fraglich ist, wie es zukünftig weitergeht, wenn auch die zivilgesellschaftlichen Organisationen in Deutschland schauen müssen, wie sie sinkende Ressourcen sinnvoll einsetzen. Alunapsicosocial appelliert daran, die Menschenrechtsorganisationen in Mexiko nicht zu vergessen. Denn „Frieden gibt es nur auf dem Papier, die Realität sieht anders aus!“.
Unterstützende Quelle:
Aluna (2024): Personas y comunidades defensoras de derechos humanos y periodistas en situación de deplazamiento forzado interno en México.
Lara Fedorchenko | VENRO |