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Welche Lehren zieht die internationale Zivilgesellschaft aus der Corona-Pandemie?

Die COVID-19-Pandemie ist weitaus mehr als eine globale Gesundheitskrise. Neben enormen sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen hat sie weitgehende Auswirkungen auf die UN-Nachhaltigkeitsziele und das Pariser Klimaabkommen. Dr. Wolfgang Jamann, Geschäftsführer des International Civil Society Centers, analysiert die Folgen der CoronaPandemie für die entwicklungspolitische Zivilgesellschaft.  

Fast zwei Jahre sind vergangen, seit die Weltgesundheitsorganisation (WHO) den globalen Gesundheitsnotstand ausgerufen hat. COVID-19 ist auf der Welt angekommen und beeinflusst seitdem und in Zukunft das Leben und die Arbeit aller. Die Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen (NRO) ist hiervon nicht ausgenommen.

Trotz aller Unsicherheiten der Analysen über die Folgen der Pandemie kristallisieren sich einige zentrale Beobachtungen heraus:

Ungleichheiten nehmen stark zu, insbesondere mit Bezug auf Geschlechterdimensionen, Beschäftigung („Gig Economy“) und Menschenrechte. Berichte von Organisationen wie Amnesty International oder Oxfam International belegen, dass die am stärksten ausgegrenzten Menschen die größte Last der COVID-19-Auswirkungen tragen. Gleichzeitig beinhaltet die aufstrebende ‚Agency‘ für insbesondere die lokale Zivilgesellschaft neue Rollen, neue Akteure und neue Strategien.

Gleichzeitig schreitet die Digitalisierung rasant voran, und zwar in ambivalente Richtungen – man denke etwa an Überwachung und Datenausbeutung vs. globaler Konnektivität.

Die globale Solidarität ist schwach ausgeprägt

Die (Un-)Fähigkeit der internationalen Gemeinschaft, mit Krisen umzugehen, hat darüber hinaus die Fehler des Systems aufgedeckt: machtlose multilaterale und UN-Institutionen, fehlende globale Zusammenarbeit und eine Renaissance des Nationalismus.

Auch Gesellschaftsstrukturen werden erschüttert. Laut dem Edelman-Trust-Barometer 2021 ist das Vertrauen in Regierungen und Institutionen international stark beeinträchtigt. Die Bereitschaft der Menschen, Opfer zu bringen, solidarisch und diszipliniert zu handeln und Empathie zu zeigen, wurde von politischen Führern nicht genutzt. Wenn es um die Pandemie eine Wahrheit gibt, dann diese: Wir sind stark miteinander verbunden. Doch die globale Solidarität ist schwach ausgeprägt.

Viele NRO befinden sich noch immer im Krisenmodus

Mis- und Desinformationen beschleunigen gesellschaftliche Spaltungen. Digitale Kommunikation und künstliche Intelligenz (KI) werden zu „Brandbeschleunigern“. Laut dem ICNL ‚COVID-19 Civic Space-Tracker‘ wird der Handlungsspielraum für Zivilgesellschaft aufgrund der Pandemie weltweit immer stärker eingeschränkt.

Zivilgesellschaftliche Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit und humanitären Hilfe, auch wenn sie im globalen Diskurs dringend gebraucht werden, befinden sich oft immer noch im Reaktions-/Krisenmodus, teilweise eingeschränkt durch restriktive Geberpolitik, unüberwindbare operative Herausforderungen, hausgemachte Probleme und koloniales Erbe. Ihre Führungskräfte stehen vor immensen Herausforderungen, sie müssen sich mit Komplexitäten und Vernetzungen auseinandersetzen, und das Ausmaß der Krise stellt etablierte Führungs- und Governance-Praktiken in Frage. Während die zunehmenden Verantwortlichkeiten (und Möglichkeiten) für Organisationen der Zivilgesellschaft immer klarer werden, wird zu wenig getan, um diesen Verantwortlichkeiten gerecht zu werden.

Hier sind einige von ihnen, die als Prioritäten behandelt werden sollten:

Es ist höchste Zeit und überfällig, Partnerunterstützung, Machtverschiebung (Power Shift) und lokal geführte Entwicklung zu intensivieren und zu radikalisieren, und gleichzeitig die Mandate international agierender zivilgesellschaftlicher Organisationen neu zu definieren.

Zivilgesellschaft braucht intelligente Antworten

Es besteht darüber hinaus dringender Bedarf, sich über die eigentlichen Mandate der NRO hinaus aktiver mit übergeordneten gesellschaftlichen Trends (Generationengerechtigkeit, Klimawandel und planetare Grenzen, Kultur- und Wertekonflikte, Geschlechtergleichstellung) auseinanderzusetzen. NRO müssen ein mächtigerer, erwünschter und kompetenterer Bestandteil der Reaktion auf globale Entwicklungen werden.

Auch müssen Organisationen der Zivilgesellschaft mehr werden als nur Nutzer, sondern Navigatoren und Mitgestalter der politischen Dimensionen der digitalen vierten Industriellen Revolution, die sich aktiv an der Internet-Governance, der ethischen Datennutzung und der digitalen Arbeit für Randgruppen beteiligen.

Auf globaler und lokaler Ebene sollen sie Vernetzung und aktive Zusammenarbeit auf Augenhöhe herstellen und vorleben. Werteorientierung kann wichtiger werden als reine Zielorientierung.

Schließlich steigen die Anforderungen an den Systemwechsel. Systemdenken ist notwendig, die Intersektionalität von Trends muss verstanden werden, aber die Zivilgesellschaft muss sich um intelligente und skalierbare Antworten bemühen, ohne ihre Werte zu kompromittieren und Ambitionen zu reduzieren.


Mehr zum Thema: Unter der Überschrift „The New Normal? Lehren aus der Pandemie für die entwicklungspolitische und humanitäre Arbeit“ hat unsere Vorstandsvorsitzende Martina Schaub auf dem VENRO-Forum 2021 mit Dr. Wolfgang Jamann über die Bedeutung der Corona-Pandemie für die internationale entwicklungspolitische Zivilgesellschaft gesprochen. Eine Aufzeichnung des Gesprächs finden Sie hier.