In Haitis Hauptstadt Port-au-Prince, in der Bandenkriminalität das Leben der Menschen massiv beeinträchtigt, bildet die Fondation St.-Luc Jugendliche und junge Erwachsene aus und eröffnet ihnen so eine Perspektive jenseits der Gangs. Dabei kooperiert sie eng mit der nph Kinderhilfe Lateinamerika. In der Ausbildung kommen junge Leute aus verfeindeten Vierteln zusammen, lernen einander besser kennen, entwickeln Verständnis und Sympathie füreinander, schildert nph-Projektkoordinator Cassagnol Destiné im Interview.
Die haitianische Nichtregierungsorganisation Fondation St.-Luc engagiert sich auf Haiti in der Humanitären Hilfe, in der gemeindebasierten Wirtschaftsentwicklung, in Bildung und Gesundheitsversorgung – immer mit einem besonderen Fokus auf den Schutz von Kindern. Ihre Gründer_innen wuchsen in Einrichtungen der Organisation nuestros pequeños hermanos (nph) in Haiti auf. Die Verbindungen sind also eng. nph Haiti und die Fondation St.-Luc sind seit 37 Jahren im Land aktiv, betreiben heute zwei Kinderdörfer, das einzige Kinderkrankenhaus im Land mit rund 250 Betten und mehr als 30 Schulen, unter ihnen eine Berufsschule in der Hauptstadt Port-au-Prince und eine weitere im Südwesten des Landes.
„Wir gestalten Programme gemeinsam mit den Menschen vor Ort – und setzen sie so um, dass wir alle voneinander lernen“, beschreibt Cassagnol Destiné die flachen Hierarchien. Inhaltlich würden sämtliche Projekte vor Ort in Haiti entwickelt. „Wir unterstützen sie dann finanziell und mit unserer Expertise.“
Doch die Bedingungen für die Arbeit im Land sind derzeit äußerst schwierig. Vor allem in der Hauptstadt Port-au-Prince verschlimmert sich die Gewalt durch kriminelle Banden stetig. „Drei- bis viertausend Gangmitglieder kontrollieren auf brutalste Art den Alltag von rund zwölf Millionen Menschen“, sagt Destiné. Der Staat ist praktisch nicht mehr in der Lage, die Menschen zu schützen. Seit Monaten herrscht Ausnahmezustand.
Um in einem derart konfliktiven Umfeld arbeiten zu können, sind schnelle Reaktionsmechanismen für den Gefahrenfall unabdingbar. „Ein Beispiel: Alle Mitarbeitenden sind im Katastrophenschutz weitergebildet und haben Sicherheitstrainings absolviert, außerdem gibt es Evakuierungspläne für die einzelnen Einrichtungen“, sagt Destiné. Wegen der angespannten Sicherheitslage habe nph bereits einige Schulen und Klinikabteilungen schließen müssen. „Wir konzentrieren uns derzeit auf unsere Kernaufgaben. Dabei ist die Bevölkerung dringend auf Hilfe angewiesen. Aber die Gewalt schränkt unsere Arbeit momentan sehr ein.“ Direkt mit den Gangs zu verhandeln, sei für nph und St.-Luc dabei ausgeschlossen. „Wenn man das einmal macht, kommt man da nie wieder heraus. Das wäre fatal für uns.“ Immerhin gewähre die Anerkennung ihrer Arbeit beiden Organisationen „bis jetzt“ einen gewissen Schutz. Die eigene Neutralität unter allen Umständen zu wahren, sei unabdingbar, so Destiné.
Basis für ein friedlicheres Zusammenleben: Bildung und wirtschaftliche Perspektiven
Zwar ist die Friedensförderung kein strategisches Ziel der Arbeit von nph und der Fondation St.-Luc auf Haiti. Doch durch ihre Arbeit schaffen sie die Basis für ein friedlicheres Zusammenleben – indem sie Menschen helfen, ihre Existenzgrundlage zu sichern, und indem sie in ihren Einrichtungen zeigen, wie Verständnis füreinander wachsen kann. Das tun die beiden Organisationen auf mehreren Wegen. Einer davon ist die Schaffung von Arbeitsplätzen, von Bildungs- und beruflichen Perspektiven für junge Erwachsene. Das Ziel: Die Menschen sollen nachhaltig für sich selbst und ihre Familien sorgen und so „in Würde leben können“, sagt Destiné. „Wenn sie über Instrumente verfügen, um ihre Zukunft selbst zu gestalten, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich kriminellen Banden anschließen, deutlich geringer.“
Das verheerende Erdbeben von 2010 habe gezeigt, wie sehr Haiti von Importen abhänge. Es fehlte an allem. „Also haben wir angefangen, im Land Produktionskapazitäten aufzubauen: für Baumaterialien, Mobiliar, Schuluniformen, Sauerstoff für unsere Krankenhäuser; Brot, Eier, Tomaten, Fisch und Fleisch. Durch die Installation von Solarzellen stellen wir außerdem die Energieversorgung unserer Gebäude sicher.“
„Wenn ich sehe, wie zwei Jugendliche
beginnen, die Sicht des anderen besser zu verstehen
– dann ist das für mich ein
großer Schritt in die richtige Richtung.“
Cassagnol Destiné, nph Kinderhilfe Lateinamerika
In Tabarre, einem benachteiligten Viertel im Ballungsraum von Port-au-Prince, betreibt St.-Luc die Akademie für Frieden und Gerechtigkeit: eine weiterführende Schule für mehr als 3.500 Schülerinnen und Schüler, die neben Allgemeinwissen auch berufliche Fertigkeiten und demokratische Werte vermittelt. Daneben unterhält die Stiftung eine Berufsschule in Port-au-Prince. Rund 400 Auszubildende werden hier in unterschiedlich lang andauernden Programmen in Klempnerei, Krankenpflege, Telekommunikation, Elektrotechnik, Automechanik, Schneiderei und Metallverarbeitung ausgebildet. „Nach dem Abschluss begleiten wir die jungen Leute so lange, bis sie entweder eine Stelle gefunden oder den Sprung in die Selbstständigkeit geschafft haben“, sagt Destiné. So will man ihnen helfen, der Anziehungskraft der Banden zu widerstehen. Denn gerade Jugendliche ohne Aussichten auf dem Arbeitsmarkt und ohne Ausbildung würden leicht von den Gangs rekrutiert, sagt Destiné. Sie finden dort Zugehörigkeit und Schutz und versuchen so der Perspektivlosigkeit zu entgehen. „Und wenn sie einmal dazugehören“, erklärt Destiné, „dann haben sie kaum eine Chance, wieder aus den kriminellen Strukturen herauszukommen“.
Förderung des Zusammenhalts in Berufsschulen und durch Freizeitaktivitäten
Um das Miteinander in der Berufsschule zu fördern, organisieren nph und die Fondation St.-Luc ein monatliches informelles Treffen zwischen allen Auszubildenden auf dem Schulgelände. „Die jungen Leute sollen einander besser kennenlernen“, sagt Destiné. „Wenn sie miteinander sprechen, einander Fragen stellen, verlieren sie ihr Misstrauen. Sie können einander besser verstehen. Sympathie und Solidarität wachsen.“
Wie gut das funktionieren kann, erfuhr er 2015 in einem Vorläuferprojekt in Cité Soleil, wo die Fondation St.-Luc einige weitere Schulen betreibt. „Wir bemerkten, dass Kinder aus verschiedenen Nachbarschaften untereinander verfeindet waren“, sagt Destiné. „Also haben wir begonnen, Freizeitaktivitäten für sie zu organisieren. Wir spielten mit ihnen Fußball und verteilten kostenlose Mahlzeiten.“ Die Gangs tolerierten das Miteinander – und die Kinder begannen, einander zu mögen. „Damals haben wir gesehen, wie Vorbehalte abgebaut werden und Freundschaften entstehen können“, sagt Destiné. „Heute arbeiten einige dieser Kinder zusammen.“ Später fand der Ansatz Eingang in die Berufsschule – und mittlerweile arbeiten junge Absolventinnen und Absolventen zusammen, „die am Anfang ihrer Ausbildung nicht viel miteinander zu tun hatten“, wie Destiné sagt. „Die Erfahrung zeigt, dass junge Menschen bereit sind, alternative Wege zu gehen und sich mit viel Engagement einzubringen, wenn man ihnen die Chance dazu gibt und an sie glaubt.“
Destiné ist überzeugt: „Der Mensch ist der entscheidende Faktor, um Frieden zu bringen. Genau da setzen wir an. Wenn ich sehe, wie zwei Jugendliche beginnen, ihre Perspektive zu ändern, die Sicht des anderen besser zu verstehen – dann ist das für mich ein großer Schritt in die richtige Richtung. Und wenn nur ein einziges Kind das schafft, hat sich für mich jede Anstrengung gelohnt.“
Der Beitrag ist erschienen im NRO-Report „IMAGINE. Wie Nichtregierungsorganisationen zu einer friedlichen Welt beitragen“
Autorinnenfoto: Studio Line
Alexandra Endres | ![]() |
Journalistin und Autorin |