Am 26. September präsentierte Staatssekretärin Baumann die neue humanitäre Strategie des Auswärtigen Amtes und diskutierte sie mit Vertreter_innen von VENRO, einer lokalen Partnerin aus Kenia, UN-Organisationen, dem roten Kreuz und des Bundestags. Damit schließt sich ein Prozess, der fast 1,5 Jahre gedauert hat. Bodo von Borries, VENRO-Bereichsleiter für Humanitäre Hilfe, Frieden und Teilhabe aller, bewertet das neue Papier.
VENRO war über den Koordinierungsausschuss in der frühen Phase an der Ausgestaltung der Strategie beteiligt, auch internationale Partner_innen konnten kommentieren. Danach hörten wir ein halbes Jahr nichts mehr. Auf politischer Ebene wurde immer wieder an dem einleitenden politischen Teil gearbeitet, der dann einige Überraschungen bot.
Positiv an der neuen Strategie ist aus NRO-Sicht zunächst die Betonung einer Partnerschaft mit den humanitären Akteuren. Dazu werden konkrete Ziele formuliert, der Anteil der NRO an der Förderung soll moderat bis 2027 von aktuell 20 Prozent auf mindestens 25 Prozent steigen und mindestens 25 Prozent der Mittel sollen so direkt wie möglich an lokale Akteure in Krisenregionen gehen. Dieses Ziel wurde schon 2016 im sogenannten „Grand Bargain“ anlässlich des World Humanitarian Summit formuliert. Insofern hätte man sich hier eine Aktualisierung mit mehr Ambition gewünscht.
Positiv ist außerdem die starke Betonung der humanitären Diplomatie für den Zugang in die Krisenregionen und den Schutz des humanitären Völkerrechts. Dazu werden in der Strategie und bei der Präsentation immer wieder der Einsatz der AA-Leitung zur humanitären Lage in Gaza und Nahost angeführt. Diese stellen aufgrund der deutschen Geschichte und besonderen Beziehung zu Israel aber einen Sonderfall dar. Humanitäre Diplomatie muss sich aber gerade auch in Krisen wie im Sudan oder Dauerkrisen wie der Demokratische Republik Kongo und in nicht zugänglichen Teilen des Jemen beweisen. Hier gibt es bisher in der Regel keine gut koordinierten Bemühungen. Es braucht auch eine bessere Vorbereitung des Botschaftspersonals für humanitäre Zugangsverhandlungen und die Rolle der Botschaften im Dialog mit gesellschaftlichen Akteuren der Krisenregion. Hier fehlt schlicht Personal, wenn Auslandsvertretungen neben der Konsularabteilung in Krisenländern manchmal nur mit ein oder zwei Personen besetzt sind.
International sollte auch der „Call for Humanitarian Action“, eine Partnerschaft zur Stärkung des Humanitären Völkerrechts, in krisenhaften Zeiten mit bisher nominell 51 Zeichnerstaaten reaktiviert werden. Der Erfolg muss sich daran messen lassen, dass auch Regierungen aus Krisenregionen hier mitmachen und sich verpflichten. Dafür müssen sie Gegenleistungen in Form von humanitärer Hilfe, politischer und technischer Unterstützung erwarten können.
Wichtig in der Strategie sind auch die konkreten Verpflichtungen, fünf Prozent dauerhaft vorausschauend zu finanzieren, um effizientere humanitäre Hilfe zu leisten. Hier ist die Bundesregierung bereits Vorreiterin im Bereich von Extremwetterereignissen. Es fehlen aber bisher eine breite Integration humanitärer Akteure, Investitionen in Fortbildung und lokale Verankerung. Anderseits sollte das Konzept auf vorhersehbare Gewaltkonflikte und ihre Folgen erweitert werden.
Letzter wichtiger positiver Punkt ist die konkrete Verpflichtung, humanitäre Hilfe zu 100 Prozent gendersensibel, wo möglich „gender targeted“ (mit besonderem Schwerpunkt auf die Bedürfnisse und Beteiligung von Frauen) und inklusiv zu machen. Der Begriff der gender-transformativen Hilfe wird umgangen. Selbst unter NRO ist umstritten, ob humanitäre Hilfe Geschlechter- und Machtbeziehungen transformieren kann beziehungsweise sollte.
All diese Reformthemen brauchen erkennbar personelle und finanzielle Ressourcen, damit die angestrebte Rolle der Gestaltung glaubwürdig ausgefüllt werden kann. Die aktuelle Kürzung der humanitären Hilfe im Haushaltsentwurf der Bundesregierung von 53 Prozent stellt die neue Strategie insofern unter einen Vorbehalt. Kann mit diesem Signal wirklich glaubhaft gestaltet werden, oder muss in erster Linie der Mangel verwaltet werden?
Effizienzgewinn sind immer möglich und wichtig, aber eine derartig drastische Reduzierung wird dadurch nicht kompensiert werden. Es werden im nächsten Jahr tausende Menschen weniger mit humanitärer Hilfe rechnen können. Eine zentrale Frage wird daher sein: Auf welcher Grundlage wird das Auswärtige Amt in Zukunft die Vergabe humanitärer Mittel priorisieren?
Der überraschende und für manche NRO schockierende Hinweis aus der Strategie lautet: Zunehmend nach Sicherheitsinteressen, so wie sie in der Bundesregierung wahrgenommen werden und nur bei Schwerpunktsetzung innerhalb von einzelnen Krisenregionen oder gar einzelnen Projekten nach den humanitären Prinzipien. Der politische Einleitungsteil der Strategie ordnet entsprechend humanitäre Hilfe als Beitrag zur deutschen Sicherheitsstrategie und zum Konzept integrierter Sicherheit ein. Zwar wird dort in der nationalen Sicherheitsstrategie ein Mischkonzept aus humanitärer und nationaler Sicherheit verfolgt, aber Staatssekretärin Baumann sprach bei der Vorstellung explizit von der Priorisierung humanitärer Hilfe „in Krisen, die Auswirkungen auf Deutschland haben“. Bisher gibt es keinen erkennbaren bedarfsabhängigen Mechanismus als Gegengewicht zu politischen Interessen – eingeführt im Sinne „menschlicher Sicherheit“, zum Beispiel über den „Humanitarian Needs Overwiew“ der UN oder die Finanzierungsaufrufe der UN, ermittelt nach den jeweiligen Bedarfen.
Schlussendlich fehlen etablierte Mechanismen für die angekündigte stärkere Arbeitsteilung zwischen Geberländern beispielsweise auf UN- oder EU-Ebene und Vereinbarungen zu Exits aus Krisenregionen und Übergangslösungen.
Als Fazit lässt sich ziehen: Die Strategie ist eine gute Vision, hinterlässt aber Fragezeichen. Diese könnten sich verstärken, sollte im nächsten Jahr eine andere Bundesregierung mit dieser Vorgabe weiterarbeiten: Wie kann mit der Hälfte der Mittel gleichzeitig die Reformthemen glaubhaft verfolgt und trotzdem eine Verteilung (auch) nach humanitären Prinzipien sichergestellt werden? Wahrscheinlich werden auch NRO über die eigene Rolle im System, ihre Unabhängigkeit und Möglichkeiten in weniger priorisierten Krisen neu nachdenken müssen.
Bodo von Borries | VENRO |