Die britische NRO-Community ist nach dem Skandal um sexuelles Fehlverhalten stark verunsichert und sucht nach einem Ausweg aus der Krise. Die Diskussion in Großbritannien zeigt auch, dass Not durchaus erfinderisch macht.
Der Druck auf die britischen Kolleginnen und Kollegen, die in der nichtstaatlichen Entwicklungszusammenarbeit tätig sind, war spürbar groß bei der diesjährigen internationalen Entwicklungskonferenz des britischen Dachverbandes BOND. Direkt zum Auftakt der Konferenz in London schleuderte die britische Entwicklungsministerin den Anwesenden ein „business as usual is not enough!“ entgegen. Die humanitären Organisationen müssten im Licht des Skandals um sexuelles Fehlverhalten im Ausland unverzüglich und entschieden handeln, so die Ministerin. Andernfalls müssten zukünftig bestimmte Aufgaben in der Nothilfe nicht mehr von Nichtregierungsorganisationen (NRO), sondern vom britischen Militär erfüllt werden. In ähnlicher Weise hatte das Ministerium den NRO bereits in den zwei Wochen vor der Konferenz gedroht, staatliche Gelder zu kürzen. Dennoch gingen die Teilnehmenden am Ende der zweitägigen Konferenz nicht verzweifelt nach Hause – denn im Angesicht des aktuellen Handlungsdrucks konnten auch viele positive Veränderungsprozesse weiter verstärkt werden.
Die britischen NRO waren schon vor dem Sex-Skandal ins Taumeln geraten
Bei der alljährlichen Entwicklungskonferenz britischer NRO wurde schnell deutlich, dass sich der Skandal um sexuelle Übergriffe und Machtmissbrauch bei Auslandsprojekten in eine Reihe von Schwierigkeiten reiht, die hier alle Anwesenden nachhaltig verunsichern. Bereits im vergangenen Jahr war die Stimmung alles andere als rosig, wie Lili Krause in ihrem Blogartikel berichtet hatte.
So erzählten Mitarbeitende und Vorstände, dass Ihnen die wachsende Repression gegen Zivilgesellschaft, die Bedrohung, Zensur und rechtlichen Einschränkungen seit Jahren die Arbeit in mehr und mehr Ländern stetig erschwere. Viele Partner vor Ort seien durch neue Registrierungs- und Berichtspflichten mit zusätzlicher Bürokratie konfrontiert und trauten sich aus Angst vor ihren Regierungen gar nicht mehr, bestimmte Projekte durchzuführen oder öffentlich auf Missstände hinzuweisen.
Doch auch in Großbritannien selbst ist das Klima merklich schwieriger geworden. Denn, so berichteten Teilnehmende, die soziale Situation in Großbritannien habe sich in Folge der Finanzkrise deutlich verschärft. Eine wachsende Ungleichverteilung von Wohlstand und Einkommen sowie eine Kürzung öffentlicher Ausgaben führten zu einem politischen Klima, in dem alle Sektoren um die zur Verfügung stehenden öffentlichen Mittel und Spenden kämpfen müssten. Spätestens seit dem Referendum über die britische EU-Mitgliedschaft beobachten viele einen Aufwind für einen nach Innen gewandten Nationalismus. Teile der Öffentlichkeit und der politischen Elite seien der Meinung, dass internationale Solidarität zugunsten sozialer Probleme in Großbritannien reduziert werden sollte. Viele Spenderinnen und Spender fühlten sich angesichts der nationalen und globalen Krisen überfordert und hilflos.
Der bevorstehende Austritt aus der Europäischen Union beschäftigt ebenfalls die britischen NRO. Die Angst vor einer politischen und finanziellen Isolierung ist groß, berichtete Rose Longhurst von BOND. Der Verlauf der Verhandlungen zwischen der EU und der britischen Regierung lasse die britischen NROs nichts Gutes hoffen. Denn die Chancen stünden derzeit schlecht, dass die europäischen Gelder nach einem britischen Austritt weiter an britische NRO fließen würden. Dass dieser finanzielle Verlust von über 300 Mio. Euro durch die britische Regierung ausgeglichen werden wird, hielten die meisten Beobachter_innen im aktuellen Klima für zunehmend unwahrscheinlich.
Was muss sich ändern?
So angespannt die Situation für viele NRO in Großbritannien derzeit auch sein mag, hoffnungslos ist sie nicht. „Cooperation and collaboration have never been more important“, sagte Gibril Faal, Vorstandsmitglied von BOND. Zum einen sei zu beobachten, dass die NRO-Community näher zusammen rücke. Zum anderen würden bereits begonnene Veränderungsprozesse mit mehr Nachdruck voran gebracht. Dazu gehören besonders die drei folgenden Bereiche:
Good Governance und Integrität
Einigkeit bestand in dem Punkt, dass zunächst einmal ein umfassendes Review der bestehenden Organisationsstrukturen vorgenommen werden solle. Prävention, Erkennung und Reaktion auf die Verletzung von Sorgfaltspflichten müssten systematisch auf den Prüfstand. Ein wichtiges Ziel solle sein, dass Organisationen besser mitbekommen, was überhaupt vor Ort und bei den Partnern passiert. „Awareness begins by noticing what is happening around you“, so Kathryn Gordon, Geschäftsführerin der Voluntary Service Overseas (VSO). Dazu gehöre nicht nur, dass Systeme zum Umgang mit Hinweisen auf Fehlverhalten verbessert und die Personalrekrutierung sorgfältiger werden müssten. Vielmehr müsse die gesamte Organisationskultur stimmen, um Machtmissbrauch vorzubeugen und sicherzustellen, dass Menschen respektvoll miteinander umgehen. Die Vorbildfunktion der Führungskräfte sei dabei eine besonders wichtige Komponente, berichtete Christine Allen von Christian Aid. Überaus kontrovers wurde der Vorschlag diskutiert, ein internationales „Passporting System“ für Mitarbeitende in der Humanitären Hilfe einzuführen.
Vielfalt und Einbindung der Begünstigten
Viele Teilnehmende sahen außerdem größere kulturelle Vielfalt und die Beteiligung der Begünstigten in der gesamten Entscheidungshierarchie als wichtige Veränderungen an, die zum Teil schon begonnen wurden und nun weiter vorangetrieben werden. Von einer größeren kulturellen Vielfalt in den Entscheidungsgremien versprachen sich einige Organisationen mehr Resilienz, Kreativität und Glaubwürdigkeit.
Gleichzeitig plädierten die großen Organisationen für eine konsequente strategische Ausrichtung auf Lokalisierung. Entscheidungen über die Mittelverteilung sollten zukünftig näher an den Begünstigen getroffen werden und lokale Kapazitäten noch gezielter und nachhaltiger gestärkt werden, so Imran Madden von Islamic Relief.
Flexiblere und adaptivere Organisationen
Strategische Planungsprozesse sollten generalüberholt werden, empfahl Jean Boulton von der Universität Bath und Autorin des Buches „Embracing Complexity: Strategic Perspectives in an Age of Turbulance“. Denn viele Organisationen hätten realisiert, dass sie heutzutage viel flexibler und lernfähiger werden müssten. Nur so könnten Sie in einer von Veränderung und Unsicherheit geprägten Welt handlungsfähig bleiben und die Ressourcen dort einzusetzen, wo sie gebraucht werden und wo sie die größte Veränderung erreichen können. „Adaptive management“ und „embracing complexity“ waren Schlagworte, über die sich das Führungspersonal britischer NROs intensiv austauschte und mit praktischen Umsetzungsmöglichkeiten experimentierte. Auf Machtkonzentration basierte Führungsmodelle seien überholt, so Boulton.
Viele Ideen für Erneuerung
In London ging nach zwei Tagen schließlich eine Konferenz zu Ende, die vielen NRO bewusst gemacht hat, dass sie im Angesicht gleich mehrerer Krisen ihre Lern- und Anpassungsfähigkeit unter Beweis stellen müssen. Die Teilnehmenden konnten dafür viele Ideen für eine institutionelle Erneuerung mitnehmen. Denn Armut, Klimaschäden, Menschenrechtsverletzungen und Ungerechtigkeit müssen auch weiterhin mit grenzüberschreitender Solidarität begegnet werden.
Die BOND International Development Conference findet einmal im Jahr statt. Dort tauschen sich die wichtigsten Vertreter_innen und Expert_innen der britischen Entwicklungszusammenarbeit über aktuelle Themen und Trends aus. Es nehmen rund 1000 Personen an der Veranstaltung teil. Mehr Informationen zu der Konferenz und die Berichte und Präsentationen finden Sie hier auf der BOND Internetseite.
Lukas Goltermann | VENRO |