Service

Rhetorik oder Realität? Kinderbeteiligung in der internationalen NRO-Arbeit

Vor 30 Jahren wurde die UN-Kinderrechtskonvention verabschiedet. Wie steht es heute um die Beteiligung von Kindern in Auslandsprojekten? In welchem Ausmaß ist ihre Partizipation tatsächlich von Bedeutung? Die VENRO-Arbeitsgruppe Kinderrechte ist diesen Fragen in einem Workshop auf den Grund gegangen.

Die Kinderrechtskonvention (KRK) ist bis heute mit 196 Staaten die meistunterzeichnete Konvention der Vereinten Nationen (UN). Sie vereinte als erste menschenrechtliche Konvention politische und zivile mit wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten. Als Instrument der Umsetzung formuliert die Konvention die drei Ps Provision, Protection and Participation als Rechtskategorien – auf Deutsch: Schutz-, Förder- und Beteiligungsrechte. Beteiligungsrechte für Kinder waren neu auf der internationalen Agenda und geradezu revolutionär. Basierend auf der Leitidee der Emanzipation waren sie Resultat langer Lobbyprozesse von Nichtregierungsorganisationen (NRO) und dem UN-Kinderhilfswerk UNICEF im zehnjährigen Entstehungsprozess der Konvention. Partizipation wurde eines ihrer Kernprinzipien. Artikel 12 der KRK formuliert das Recht des Kindes – das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden – diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern. Mit Ratifizierung der KRK verpflichtet sich der Staat zur Berücksichtigung der Meinung des Kindes, angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife. Ausgangspunkt der Konvention ist ein Bild des Kindes, das über die Fähigkeit selbstbestimmten Handelns verfügt, das auf seinem freien Willen basiert.

Soweit die Theorie.

30 Jahre KRK – Kinderbeteiligung in der NRO-Projektarbeit 2021

Wie steht es um die Beteiligung von Kindern in der praktischen Arbeit in Auslandsprojekten heute? Fest steht: 30 Jahre nach der Verabschiedung der Kinderrechtskonvention haben Kinderechtsorganisationen weltweit Wege gesucht, Beteiligung von Kindern in ihren Projektvorhaben umzusetzen.

Doch in welchem Ausmaß ist die Beteiligung von Kindern tatsächlich von Bedeutung? Die VENRO-AG Kinderrechte und Entwicklungszusammenarbeit hat sich dieser Frage im Juli 2021 in Form eines Workshops zu Partizipation von Kindern und Jugendlichen in Auslandsprojekten gewidmet, um Formen der Partizipation an verschiedenen Punkten der Projektimplementierung zu diskutieren. Dieser Blogeintrag möchte Eindrücke aus dem Workshop weitergeben und Möglichkeiten und Grenzen von Kinderbeteiligung in der Projektumsetzung vorstellen.

Jugendliche setzen eigene Schwerpunkte

Eine gute Vorbereitung und der Einbezug aller Beteiligten der Gemeinschaft sind unabdingbar für eine nachhaltige Wirkung von Projekten. Das wurde an einem partizipativen Forschungsprojekt aus Sierra Leone deutlich, das die Kinderrechtsorganisation World Vision vorstellte. Jugendliche hatten durch Befragungen von Gleichaltrigen herausgefunden, dass der Umgang mit Teenagerschwangerschaften besonders relevant für ihre Gemeinde ist. Zu den gemeinsam erarbeiteten Maßnahmen hatten sich die Kommunen und die Gesundheitsbehörden noch zwei Jahre nach Projektende verpflichtet – das ist nachhaltig. Denn Projektidee und Maßnahmenkatalog kamen von den Jugendlichen und der Gemeinde selbst.

Kinder sind kompetent und gerade Kinder, die im Globalen Süden aufwachsen, müssen oft schon sehr früh verantwortungsvolle Aufgaben in ihrer Familie und der Gemeinde übernehmen. Von außen vorgegebene und voreingenommene Annahmen über ihre Kompetenzen engen den Gestaltungsspielraum von Kinderrechtsprojekten ein. Jugendbeteiligung in der Projektarbeit stellt sich vorgefertigten Thesen entgegen und ermöglicht kontextbezogene Arbeit. So verdeutlichte ein von Terre des Hommes finanziertes Vorhaben eines sambischen Jugendnetzwerkes, dass Kinder nicht nur motiviert, engagiert sondern auch eigenverantwortlich handeln. Jugendliche aus der sambischen Hauptstadt Lusaka verbanden den Wunsch nach einer sauberen Umwelt mit unternehmerischem Geist und gründeten ein Müllrecycling-Vorhaben in Form eines Social Enterpreneurships, das von Jugendlichen erfolgreich selbst gemanagt wird.

Partizipation bedeutet Selbstermächtigung

Beteiligung, das zeigte auch ein Beispiel aus Afghanistan, ist kein Selbstzweck. World Vision Afghanistan stellte vor, wie Kinder in Prozessen der Selbstermächtigung im ländlichen Afghanistan lernen, ihre Stimme zu erheben, Risiken von Kinderschutz in ihren Gemeinden zu identifizieren und sich Gewalt gegen Kindern entgegenzustellen. Diese Räume der Selbstermächtigung sind inklusiv, Kinder mit Behinderungen werden mit ihren Bedürfnissen bewusst in Feedbackprozesse der Projektarbeit einbezogen das Gleiche gilt für Geflüchtete und weitere Kinder, die besonders vulnerabel sind. Auch sie sind Rechteinhaber_innen und brauchen eine Möglichkeit, diese einzufordern.

Der aktive Einbezug von Eltern und der Gemeinde, den religiösen und traditionellen Führer_innen und die alters- und kulturgerechte Einbindung der Kinder, aber auch die Selbstverpflichtung der implementierenden NRO zu internationalen Standards sowie ihr Anspruch der Rechenschaftslegung gegenüber den Kindern wurden im VENRO-Workshop als Prämisse im Erfolg der Umsetzung identifiziert.

Maßgeblicher Erfolgsfaktor aller Vorhaben waren neben kinderfreundlichen und selbst ermächtigenden Methoden in der Durchführung vor allem auch die Förderung der Beteiligungsrechte, die es erlaubten, mit voreingenommenen Kindheitsbildern und Kompetenzeinschätzungen des Globalen Nordens zu brechen und sich auf neue Kontexte einzulassen.

Nur so kann Kinderbeteiligung einen transformativen Charakter erwirken, nur so wird aus Rhetorik Realität.

Kinderbeteiligung als eine Form der Ausübung von Staatsbürgerschaft

Mit der Unterzeichnung der KRK haben sich Staaten verpflichtet, einen Rahmen zu schaffen, um die Kinderrechte zu respektieren, zu schützen und umzusetzen. Die Projektbeispiele aus der Praxis haben dargestellt, dass die Kinder kompetent sind, ihre Rechte auszuüben und Entwicklungszusammenarbeit in der Lage ist, die Ausübung dieser Rechte zu stärken. Dort, wo der Staat durch Beteiligungsprozesse Macht an die Kinder abgibt, ermöglicht er ihnen und der Gesellschaft das Erlernen und Festigen von Demokratiefähigkeit und friedlicher Konfliktbewältigung.

Doch mit den neuesten Entwicklungen in Afghanistan zeigen sich beispielhaft die Grenzen von Entwicklungszusammenarbeit. Dort, wo nicht ein Minimum an Frieden und Demokratie herrscht, wird Teilhabe und Partizipation nicht nur eingeschränkt die Ausübung von Beteiligungsrechten kann eine Gefahr für das eigene Leben von Kindern und ihren Familien bedeuten.

In der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit müssen sich Kinderrechtsorganisationen der Verantwortung stellen, bei der Förderung von Beteiligungsrechten in fragilen Situationen einen Spagat zu leisten: Die Ermächtigung von Beteiligungsrechten einerseits zu fördern, andererseits jedoch immer das Wohl des Kindes als vorrangig zu betrachten.


Rosilin Bock ist Beraterin für Kinderrechte und Bildung bei unserer Mitgliedsorganisation World Vision.