Politik

Wie sich die Finanzkrise auf den Globalen Süden auswirkte

Vor zehn Jahren erfasste die Finanzkrise alle Länder der Erde. Die daraus resultierenden Folgen wurden in den Gesellschaften des Globalen Südens und denen des Nordens jedoch höchst unterschiedlich wahrgenommen. Antje Schneeweiß von unserer Mitgliedsorganisation SÜDWIND analysiert, wie die Länder des Südens die Auswirkungen der Finanzkrise verkraftet haben.

Die am 15. September 2008 durch den Konkurs der Bank Lehman Brothers ausgelöste Finanzkrise erfasste in rasanter Geschwindigkeit alle Volkswirtschaften der Erde. Damals tauchte in den Medien das Bild des „Rettungsschirms“ auf. Dieser von den Regierungen unter Aufwendung von Milliarden Euro und US-Dollar an Steuergeldern aufgespannte Schirm sollte Banken vor den Folgen ihrer Investition in wertlos gewordenen Hypothekenkredite bewahren. Viele Menschen fragten damals, warum Banken, die oft an ihrer Misere eine Mitverantwortung trugen, gerettet werden sollten, während Menschen, die bloß Zuschauer des Geschehens waren, ohne Rettungsschirm die Konsequenzen tragen mussten.

Die Rolle des zur Passivität verurteilten Opfers der Krise kam in besonderem Maße jenen Menschen zu, die in den exportorientierten Sektoren des Globalen Südens ihr kümmerliches, sehr hart erarbeitetes Einkommen verloren. Wer, so fragten sich entwicklungspolitisch engagierte Menschen, spannt einen Rettungsschirm für sie?

Vier unmittelbare Konsequenzen für den Globalen Süden

Die Finanzmarktkrise erreichte die Länder des Südens über vier Ansteckungswege. Zum ersten kam es zu einem deutlichen aber vorrübergehenden Rückgang der Entwicklungshilfemittel.

Zum zweiten konnten von Arbeitslosigkeit betroffene Migranten im Norden keine oder nur reduzierte Heimatüberweisungen an ihre Familien tätigen. Hiervon waren in besonderem Maße mittelamerikanische Länder betroffen, in denen Verwandte von Arbeitsmigranten aus den USA oder Spanien vergeblich auf die benötigte Unterstützung warteten.

Ein drittes Problem stellte der Kapitalabzug aus Entwicklungsländern in die Zentralen der im Norden angesiedelten Banken dar. Angesichts der Kreditklemme und hohen Abschreibungsverlusten mussten die Banken aus dem Norden ihre Kapitaldecke stärken und zogen deshalb Geld in die Zentralen ab. Dies betraf auch Entwicklungsländer wie Indien oder Südafrika, die in den Jahren zuvor ihre Finanzmärkte geöffnet hatten. Betroffen waren auch die Börsen dieser Länder: In Südafrika wurden alleine im vierten Quartal 2008 Wertpapiere im Wert von acht Milliarden Euro verkauft. Die Kurse brachen um 35 Prozent ein. In den betroffenen Ländern hatte dies zur Folge, dass auch die heimischen Banken die Kreditvergabe drosselten. Leittragende waren vor allem kleine und mittlere Unternehmen, deren Versorgung mit Krediten plötzlich stark eingeschränkt wurde. Es kam zu Konkursen und einem Verlust von Arbeitsplätzen.

Der vierte Ansteckungsweg war der massive Einbruch des Welthandels mit dem damit einhergehenden Zusammenbruch der Rohstoffpreise. Über diesen Weg erreichte die Krise wohl die meisten Menschen in Entwicklungs- und Schwellenländern – und dies auch in Staaten, deren Wirtschaft gute Wachstumsraten aufwies und deren Kapitalmärkte vor einem schnellen und starken Abfluss von Kapital geschützt waren. Es kam zu massiven Entlassungen in so unterschiedlichen Ländern wie China, Argentinien, Indonesien und Sambia. Dabei traf sie sowohl den verarbeitenden Sektor, aus dem mehr und mehr Fertigungsschritte in die Länder des Südens ausgelagert worden waren, als auch den Rohstoffsektor. Hier führten die implodierenden Preise für z.B. Kupfer und Platin zu Massenentlassungen in den Minen des südlichen Afrikas. Die Folgen dieses Einbruchs der Nachfrage aus dem Norden sind wohl auch die am längsten spürbaren: Experten aus Indonesien und Südafrika berichten, dass sich die verschlechterten Arbeitsbedingungen in Form von kurzfristigen Beschäftigungsverhältnissen und einem massiven Ansteigen von ungeschützter Leiharbeit bis heute nicht wieder normalisiert haben. Allerdings liegt der Grund für diesen andauernden Trend weniger in langanhaltende Absatzprobleme der Fabriken und Minen. Experten glauben vielmehr, dass Unternehmen die Situation Ende 2008 lediglich zum Anlass nahmen, ihre Belegschaft zu flexibilisieren und so die Unsicherheiten ihres Geschäfts auf die Arbeiter_innen abzuwälzen und Kosten zu sparen.

Die Katastrophen von Rana Plaza und Marikana im Kontext der Krisenfolgen

Dieser Einbruch der Nachfrage nach Konsumgütern im Norden als Folge der Finanzmarktkrise führte in Bangladesch jedoch zu einer paradoxen Entwicklung. Während Textilfabriken in Indonesien und China Arbeiter_innen entließen, kam es in diesem Land ab 2009 zu einem Boom. Großhändler von Textilien im Norden gingen davon aus, dass in Zeiten des wirtschaftlichen Abschwungs vor allem Billigware gefragt sein würde. Eines der billigsten Länder der Textilfertigung war Bangladesch. Aus diesem Grund wurden bei dortigen Textilunternehmen deutlich mehr Aufträge platziert als zuvor. Der Export von Textilien stieg von 12,5 in den Jahren 2009/10 auf 18 Milliarden US-Dollar in den  Jahren 2010/11. Die Textilindustrie in Bangladesch baute deshalb in kurzer Zeit Kapazitäten auf. Dazu zählte auch der illegale Ausbau des Fabrikkomplexes Rana Plaza in Dhaka, der im April 2013 zu dessen Zusammenbruch führte. Bei der Katastrophe starben 1.134 Menschen starben.

Südafrikaner, die die Situation in den Minengebieten des Landes genau beobachten, berichten seit der Finanzmarkkrise von einer deutlichen Verschlechterung der Arbeitsbedingungen. Der mit der Krise einhergehende Einbruch der Rohstoffpreise führte in diesem Land zur Entlassung von insgesamt 150.000 Arbeiter_innen. Platinminen wie in Marikana entließen allein 35.000 Minenarbeiter_innen. Seitdem stagniert die Arbeitslosigkeit, die Löhne blieben niedrig. Als der Platinpreis wieder anstieg, verlangten die Arbeiter_innen höherer Löhne. Diese Auseinandersetzung in der Marikana-Mine des Unternehmens Lonmin endete damit, dass Sicherheitskräfte 34 Minenarbeiter erschossen.

Anhaltend niedrige Beschäftigungsquoten

Konkrete Auswirkungen der Finanzmarktkrise auf einzelne Länder lassen sich nur in wenigen Fällen ausmachen. Global gesehen zeichnet sich allerdings ein Muster ab, unter dem Länder des Südens und Nordens gleichermaßen zu leiden haben. So lag das Wirtschaftswachstum von 2008 bis 2016 mit 2,5 Prozent um einen ganzen Prozentpunkt unter dem globalen wirtschaftlichen Wachstum von 2000 bis 2007. Von dieser Entwicklung waren die Länder des Nordens allerdings stärker betroffen als die des Südens. Im Norden lag das Wirtschaftswachstum durchschnittlich um 1,5 Prozent unter der Vorkrisenzeit. Im Norden wie im Süden führt das zu anhaltend niedrigen Beschäftigungsquoten. Neben den südeuropäischen Staaten sind von dieser Entwicklung besonders Länder in Südamerika wie Brasilien, Argentinien und Kolumbien betroffen. Besorgniserregend ist, dass weltweit besonders Menschen im Alter von 15 bis 24 den Mangel an Arbeitsplätzen zu spüren bekommen.

Die Länder des Globale Südens halfen sich selbst

Ein umfassendes Bild der Krise ergibt sich allerdings erst, wenn man die Stärken, die Entwicklungsländer in der Krise durchaus gezeigt haben, mit betrachtet: Ihre offensichtlichste Stärke liegt darin, dass ihre Banken aufgrund einer besseren Regulierung keine verbrieften Subprime-Kredite kauften – anders als etwa die Banken Europas. Dies verhinderte eine direkte Ansteckung. Höhere Kapitalanforderungen, eine Einschränkung des Spekulierens auf Kredit sowie eine Begrenzung der Aktivitäten im Ausland verhinderten zum Beispiel, dass die sonst sehr gut in die internationalen Kapitalmärkte integrierten Banken Südafrikas in toxische Wertpapiere investierten. Mehrere Entwicklungsländer zeigten zudem Stärke, indem sie in kurzer Zeit entschlossene Konjunkturmaßnahmen zur Gegensteuerung in Angriff nahmen. Zu diesen Ländern zählen u.a. China und Argentinien. Während die Krise die Schwächen der Finanzmärkte und ihrer Regulierung im Norden schonungslos offenlegte, wurde ebenso deutlich, dass das Bankensystem der Länder des Globalen Südens aus den vorangehenden Krisen gelernt hatte und in dieser Zeit stabil blieb. Vor diesem Hintergrund wurde der besagte Rettungsschirm für die Armen  also von den Regierungen einer Reihe von Schwellenländern selbst gespannt – denn diese sorgten dafür, dass ihre Bürger_innen vor den schlimmsten Krisenfolgen bewahrt wurden.

Insgesamt unterscheidet sich die Wahrnehmung der Folgen der Finanzkrise 2008 in den Gesellschaften des Globalen Südens und denen des Nordens fundamental. Während im Norden das Bewusstsein besteht, in einer Nachkrisenzeit zu leben und viele Menschen die Krise als eine Zäsur erleben, ist dies in den untersuchten Entwicklungsländern nicht der Fall. Hier wird sie eher als eine Krise von vielen wahrgenommen. Oftmals, wie etwa in Argentinien, ist sie nicht das Ereignis, das die tiefsten Spuren im kollektiven Gedächtnis hinterlassen hat. Selbst in Südafrika, wo die Finanzmarktkrise bis heute in Form von verschlechterten Arbeitsbedingungen in den Minen spürbar ist, wird dieser Bezug kaum hergestellt. Auch in Indien verbindet kaum jemand die Probleme, die kleine und mittlere Unternehmen bei der Kreditaufnahme haben, mit der Finanzkrise 2008. Dies sagt weniger über die Schwere der Krisenfolgen als über die Situation der Menschen aus: Extern verursachte Krisen, die die eigene Existenz bedrohen, gehören zu den normalen Lebenserfahrungen der meisten Menschen in Entwicklungsländern. Für viele Menschen in Europa und Nordamerika war diese Erfahrung jedoch neu und wurde deshalb viel stärker als einschneidende Erfahrung erlebt.


Weitere Informationen zum Thema hat unsere Mitgliedsorganisation SÜDWIND in der Publikation 10 Jahre Finanzkrise. Auswirkungen auf den Globalen Süden zusammengestellt.

Über die Finanzkrise und ihre Auswirkungen auf die Entwicklungsländer veranstaltet VENRO darüber hinaus das Fachgespräch Welchen Schutz bieten die Maßnahmen der G20?.