Politik

Nach der Pandemie ist vor der Pandemie: Wohin steuert die WHO im 75. Jahr ihres Bestehens?

HIV-Test in Nkokonjeru, Uganda

Wie alljährlich um diese Zeit tritt ab kommendem Sonntag das höchste Entscheidungsorgan der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zusammen – die Weltgesundheitsversammlung. Im Genfer Palais des Nations diskutieren Mitgliedstaaten und internationale Beobachter_innen, wie sich die WHO neu aufstellen muss, um künftigen Pandemien wirksam vorzubeugen. VENRO-Gesundheitssprecher Jan-Thilo Klimisch ist vor Ort und blickt auf die Ereignisse in Genf voraus.

Einen Bundestagsantrag samt 45-minütiger Plenardebatte haben wohl die wenigsten auf dem Wunschzettel zu ihrem runden Geburtstag stehen. Bei der WHO in Genf aber, die in diesen Tagen ihr 75-jähriges Jubiläum feiert, dürfte man sich über dieses Präsent aus dem deutschen Parlament durchaus gefreut haben. In einer sehenswerten Primetime-Debatte am 12. Mai, die gänzlich ohne Redebeiträge amtierender Regierungsvertreter_innen auskam, formulierten die Abgeordneten ihre Empfehlungen zur Weiterentwicklung und Stärkung der WHO. Wie wichtig das sei, habe nicht zuletzt die Corona-Pandemie offenbart, wurde in der Debatte immer wieder betont.

In namentlicher Abstimmung und mit breiter überfraktioneller Mehrheit forderte der Bundestag schließlich die Regierung dazu auf, ihre Bemühungen um eine bessere finanzielle Ausstattung sowie größere finanzielle Unabhängigkeit der WHO zu forcieren. Der Schlüssel dafür soll in einer schrittweisen Erhöhung der Pflichtbeiträge sämtlicher WHO-Mitgliedstaaten bis zum Jahr 2030 liegen – ein Ansinnen, das VENRO sehr begrüßt und in der Vergangenheit wiederholt gefordert hatte, auch um damit den Einfluss von zweckgebundenen Zahlungen durch einflussreiche Philanthropen in Zaum zu halten.

Deutschland darf beim Thema Beitragserhöhungen nicht lockerlassen

In den vergangenen Jahren hat sich Deutschland innerhalb der Weltgesundheitsorganisation bei der Aushandlung dieses Vorhabens hervorgetan und eine Absichtserklärung zur Anhebung der Pflichtbeiträge auf einen Anteil von 50 Prozent des WHO-Kernbudgets erreicht. Nun gilt es auch bei der Umsetzung am Ball zu bleiben. Denn leider gibt es nach wie vor eine ganze Reihe WHO-Mitglieder, die sich mit Beitragserhöhungen arg zurückhalten – mit vagem Verweis auf fehlende Transparenz- und Effizienz-Fortschritte bei der Weiterentwicklung der WHO.

Gegen mehr Transparenz und Effizienz ist natürlich nichts einzuwenden, ganz im Gegenteil. Wenn das allerdings vorgeschoben wird, um finanziellen Anstrengungen zu entgehen oder diese zumindest aufzuschieben, hat das dann aber doch einen etwas faden Beigeschmack.

COVID-19 zeigt Dringlichkeit einer gestärkten WHO auf

Auch darum dürfte der Rückenwind aus dem Bundestag für einen Gleichschritt von WHO-Stärkung und Reformen vielen in der Weltgesundheitsorganisation willkommen sein. Ebenso richtig und wichtig ist das in dem Parlaments-Antrag enthaltene Postulat für eine verbesserte Koordinierung aller weltweit auf globale Gesundheit ausgerichteten Instrumente. Denn der von Deutschland zu diesem Zweck im Jahr 2019 mitinitiierte ‚Global Action Plan for Healthy Lives and Well-being for All‘ konnte im Ergebnis bislang leider nur wenig Wirkung entfalten. Wie dringlich eine gestärkte WHO als zentral koordinierende globale Gesundheitsinstanz wäre, haben uns die Pandemie-Erfahrungen der vergangenen Jahre nur zu deutlich vor Augen geführt.

Zu den heißen Themen der diesjährigen Weltgesundheitsversammlung – und aufgrund komplizierter und langwieriger Verhandlungen wohl auch noch der nächstjährigen – zählt zudem die laufende Aushandlung eines internationalen Pandemieabkommens wie auch Debatten über eine Ergänzung oder partielle Neufassung der bereits existierenden Internationalen Gesundheitsvorschriften der WHO.

Kurz nachdem WHO-Generaldirektor Tedros Anfang Mai den im Zuge der Corona-Pandemie verhängten, über drei Jahre andauernden weltweiten Gesundheitsnotstand aufgehoben hat, richtet sich der Blick nun darauf, die richtigen Lehren aus dem Pandemie-Geschehen zu ziehen. Denn Versäumnisse gab es genug, und die nächste Pandemie wird nicht ewig auf sich warten lassen – in diesem doppelten Befund sind sich globale Gesundheitsexpert_innen weitgehend einig.

Wie wappnen wir uns für künftige Pandemien?

Was also muss besser laufen? Wie sollte sich die globale Gesundheitsarchitektur unter dem Dach der WHO neu aufstellen, um Pandemien wirksam vorzubeugen und für neuerliche Pandemie-Ausbrüche gewappnet zu sein? Zu einer umfassenden Beantwortung dieser Fragen reicht ein Blog-Beitrag selbstverständlich nicht aus. Zumindest aber so viel sei gesagt: Was wir dringend brauchen, ist eine weltweite Verwirklichung allgemeiner Gesundheitsversorgung, wie sie im laufenden Jahr bei diversen internationalen Foren diskutiert wird – nicht zuletzt auch in der kommende Woche in Genf.

Was dabei unbedingt stärker in den Fokus gerückt werden sollte, sind eine Basisgesundheitsversorgung (Primary Health Care) und lokale, gemeindenahe Ansätze, eine bessere Beteiligung von Betroffenengruppen sowie die umfassende zivilgesellschaftliche Teilhabe bei Planung, Umsetzung und Monitoring. Nur so kann es gelingen, Gesundheit mehr in die Fläche zu bringen und insbesondere auch diejenigen zu erreichen, die bezüglich Gesundheitsversorgung in besonderem Maße vernachlässigt werden. Diese zentralen Aspekte lässt der Bundestagsantrag zur WHO-Stärkung leider vermissen, obwohl auch zivilgesellschaftliche Beteiligung für den Erfolg der Weltgesundheitsorganisation letztlich entscheidend ist.

Was wir zudem dringend abbauen müssen, sind Barrieren und Ungerechtigkeiten im Zugang zu bezahlbaren Medikamenten, Impfstoffen, Diagnostika, Therapeutika, medizinisch-technischen Hilfsmitteln und Präventionsleistungen. Was wir dringend stärken müssen, sind Aus- und Fortbildung sowie Bindung von gut bezahltem Gesundheitspersonal. Auch Ausbau und Stärkung statistischer Kapazitäten sowie digitaler Gesundheitsanwendungen gehört zu den zentralen Erfordernissen.

Was es bei künftigen Gesundheitskrisen unbedingt einzudämmen gilt, ist das Unterbrechen und Zurückwerfen etablierter Gesundheitsmaßnahmen. Viele zuvor mühsam erreichte Erfolge von Bekämpfungsprogrammen gegen Infektionskrankheiten wie HIV / AIDS, Tuberkulose, Malaria und vernachlässigte Tropenkrankheiten (s.g. NTDs) wurden im Zuge der Corona-Pandemie zunichtegemacht, anstatt deren Strukturen auch gegen COVID-19 nutzbar zu machen. Überschneidende Krankheitslasten, Wechselwirkungen und Synergien bei der integrierten Bekämpfung verschiedener Erkrankungen kommen in vielen Gesundheitsmaßnahmen nach wie vor viel zu kurz.

Es braucht eine solidarische Finanzierung allgemeiner Gesundheitsversorgung

All diese Aufgaben und Herausforderungen machen deutlich, wie wichtig es ist, Gesundheit trotz des Abklingens der Corona-Pandemie weit oben auf der internationalen Agenda zu halten. Als Grundlage für eine ausreichende und solidarische Finanzierung allgemeiner Gesundheitsversorgung empfiehlt VENRO der WHO und ihren Mitgliedstaaten, eine Anpassung ihrer über 20 Jahre alten Berechnungsgrundlage aus dem Jahr 2001 vorzunehmen und die weltweiten Bedarfe zur Finanzierung globaler Gesundheit neu zu berechnen. Das wäre ein würdiges und angemessenes Geschenk zum 75. Jubiläum. Denn nur eine klare, aktualisierte Bezifferung dessen, was gebraucht wird, schafft eine gute Basis für Umsetzung und Monitoring.


Gesundheit ist ein Menschenrecht, die allgemeine Gesundheitsversorgung muss weltweit bis 2030 erreicht sein. Welche Maßnahmen es dafür braucht, lesen Sie in unserem aktuellen Standpunkt.