Der globale Migrationspakt ist wegweisend für eine menschenwürdige Migrationspolitik. Vor vier Jahren hatte ihn die UN-Staatengemeinschaft in Marrakesch beschlossen. Im Mai steht er nun beim ersten Überprüfungsforum Internationale Migration (IMRF) auf dem Prüfstand. Im Interview erläutert Dr. Ilona Auer-Frege, Vorstandsmitglied von VENRO, welche positiven Akzente der Migrationspakt setzen konnte und an welchen Stellen die Politik nachlegen muss.
Wo sehen Sie heute die größten Herausforderungen in der Migrationspolitik?
„In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist Migration für die EU ein immer wichtigeres Thema geworden, allerdings vor allem mit dem Vorzeichen, Migrationsbewegungen nach Europa einzuschränken oder die Rückkehr von Migrant_innen und den Grenzschutz einseitig zu priorisieren. Legale Wege wurden kaum ausgebaut und der rechtliche Status von Migrantinnen und Migranten ist immer wieder öffentlich von führenden Politiker_innen in Frage gestellt worden. Dadurch geriet in der politischen Diskussion der Schutz der Menschen und ihrer Rechte an den europäischen Außengrenzen, auf dem Mittelmeer und auch vorgelagert in Staaten Afrikas und anderswo aus dem Blick. Der globale Migrationspakt kann in dieser Debatte positive Impulse setzen, weil er das bisher einzige übergreifende Abkommen in diesem Bereich ist. Dafür muss die Politik sich aber von ihrer rein nationalen und eurozentristischen Perspektive lösen.
Welche Ziele des globalen Migrationspaktes haben sich besonders positiv ausgewirkt?
„Die 23 Ziele des Pakts sind sehr unterschiedlich konkret formuliert – Ziel 2 zum Beispiel verfolgt im Wesentlichen das Anliegen, die Lebensumstände der Menschen in den Herkunftsländern zu verbessern. Positiv ist dabei, dass hier auch die Rechte der Vertriebenen durch den Klimawandel ausdrücklich genannt werden. Dieses Ziel ist dementsprechend aber auch ein sehr weites Feld und umfasst viele verschiedene Gruppen und Herausforderungen. Andere Ziele, etwa eine Inhaftnahme von Migrant_innen zu vermeiden, die Seenotrettung zu unterstützen oder die Datengrundlage für die Migrationspolitik zu verbessern, sind dabei sehr viel klarer gefasst. Allerdings fehlen dem Migrationspakt klare Indikatoren, an denen sich die Erfolge direkt messen lassen. Zudem betonen die Staaten die einzelnen Ziele sehr unterschiedlich: Für die einen stehen eher die Rückkehr und die Reintegration im Fokus, für andere der Schutz vulnerabler Gruppen. Ein großer Erfolg des Abkommens ist es aber, dass diese Themen nun strukturiert und international diskutiert werden können. So wird das bevorstehende UN-Migrationsforum zur Überprüfung des Pakts all diese Ziele erneut auf den Tisch legen.”
Ist es der Politik in den letzten Jahren gelungen, das entwicklungspolitische Potenzial von Migration der breiten Bevölkerung besser zu vermitteln?
„2015, als viele Geflüchtete in Ungarn festsaßen, ist deutlich geworden, dass Entwicklungspolitik direkt mit uns zu tun hat und dass Krisen in anderen Teilen der Welt auch Einfluss auf uns haben. Durch den Krieg gegen die Ukraine erneuert sich diese Erkenntnis gerade auf bittere Weise. Die Aufnahme der ukrainischen Geflüchteten über die EU-Schutzgewährungsrichtlinie ist dabei ein Fortschritt, weil die Neuankommenden damit ein Recht auf Bildung und Zugang zum Arbeitsmarkt haben – ganz, wie es in den Zielen 5 und 15 des globalen Migrationspakts angedacht ist. Von daher nutzt die Politik gerade neue Wege, aber bisher nur singulär für eine Gruppe. Das sollte sich ändern, denn nach 2015 hat sich gezeigt, dass Migration ein großes Potenzial hat. Die Bevölkerung und viele Arbeitgeber_innen sind da häufig schon sehr viel weiter als die Politik.”
Welche Länder sehen Sie als Vorreiter einer guten Migrationspolitik?
„Es gibt in vielen Ländern gute Ansätze, den Schutz und die Rechte von Migrant_innen weiterzuentwickeln. Auf den Philippinen werden Migrant_innen über den eigenen nationalen Bedarf hinaus zu Pflegekräften ausgebildet. Es gibt Initiativen zum Schutz von Klimavertriebenen im Pazifik und in Ostafrika, die aber noch eine verbindlichere Form brauchen. In Lateinamerika haben mehrere Länder, unter anderem Ecuador, Schritte unternommen, um die Diaspora durch eine Vertretung im Parlament politisch besser einzubinden oder Eingewanderten schneller das Wahlrecht und eine Einbürgerung zu ermöglichen. Auch in Uganda gibt es interessante Ansätze, die darauf abzielen, Einwander_innen zu eigenem Land zu verhelfen. Staaten wie Kanada oder Schweden haben darüber hinaus sehr sinnvolle humanitäre Zugänge in ihren Ländern geschaffen. Das kanadische Punktemodell soll wohl in Teilen auch für ein deutsches Einwanderungsgesetz Pate stehen. Es ist also deutlich, dass wir sehr viel von anderen Kontinenten und Regionen lernen können, wenn wir uns aus unserer europäischen Blase herausbewegen.”
Welche Rolle spielt die Zivilgesellschaft bei der Umsetzung des Migrationspakts?
„Die Zivilgesellschaft ist für die Umsetzung des Migrationspakts unverzichtbar. Zivilgesellschaftliche Organisationen, Netzwerke und Diaspora-Verbindungen waren schon bei der Erarbeitung wichtige Impulsgeberinnen. Der Blick von Staaten auf Migration ist ein sehr spezifischer und häufig von ihrer geografischen Lage, ihrer Demografie oder der Arbeitsmarktlage geprägt. Die Zivilgesellschaft hingegen pocht eher Kontinente übergreifend auf den Schutz und die Rechte der Migrant_innen und den Wert von Migration. Im Vorfeld großer Konferenzen wie dem jetzt anstehenden UN-Migrationsforum in New York werten Nichtregierungsorganisationen die Fortschritte der Staaten kritisch aus. Zugleich sind viele Organisationen tagtäglich aktiv, Migrant_innen auf ihrem Weg zu begleiten, sie gegen Ausbeutung und Übergriffe zu schützen und Integration zu ermöglichen. Ohne ihre Expertise wäre eine realistische Debatte über Migration nicht möglich.”
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