Politik

Globales Lernen für radikalen Wandel?! Welche Rolle die Bildungsarbeit für die große Transformation spielt

Für eine nachhaltige und gerechte Zukunft braucht es Bildung. Durch Reproduktion von Normen und Machtverhältnissen kann Bildung gleichzeitig aber auch eine Bremse für die sozial-ökologische und ökonomische Transformation sein. Inwieweit Bildung einen Beitrag zur Transformation leisten kann und wie sich dafür das Bildungssystem verändern muss, hat VENRO im Rahmen eines Fachtags mit 35 Expert_innen diskutiert.

Bildung kann eine Schlüsselrolle einnehmen, wenn es darum geht, unsere Welt zu einem gerechteren und nachhaltigeren Ort zu machen. Doch wer Bildungsarbeit macht, braucht einen langen Atem. Bildung entfaltet ihre Wirkung meist eher über längere Zeiträume und im Zusammenspiel mit anderen gesellschaftlichen Lernprozessen. Sie kann nicht alleiniger Motor des Wandels sein. Bildung kann gleichzeitig auch dazu beitragen, den Status quo zu erhalten, indem sie Normen und Machtverhältnisse unserer Gesellschaft reproduziert. Es stellt sich die Frage: Welche Rolle kann Bildung für die sozial-ökologische und ökonomische Transformation spielen und welchen Wandel brauchen wir dafür im Bildungssystem?

Gemeinsam mit 35 Praktiker_innen und Multiplikator_innen für Globales Lernen, Bildung für nachhaltige Entwicklung und entwicklungspolitische Bildung diskutierte VENRO diese Fragen im Rahmen des Fachtags “Globales Lernen für radikalen Wandel?! – Bildung als Schlüssel oder Bremse für die große Transformation”. Dieser fand am 14. Juni im Jugendgästehaus Aasee in Münster statt und wurde von Timo Holthoff, Welt.Beziehung.Bilden, moderiert. Der Fachtag orientierte sich in verschiedenen Inputs und Workshops an drei Kernfragen:

1) Welche Transformation meinen wir eigentlich und wie sehen unsere Visionen von einer nachhaltigen und gerechten Zukunft aus?

Uchita de Zoysa gab in einem Input seine kritische Perspektive auf die globalen Nachhaltigkeitsziele (SDGs) wieder. Neben der Frage, inwiefern die SDGs sich als Vision für eine nachhaltige Zukunft eignen, stellte er heraus, wie unzureichend die Umsetzung der SDGs verfolgt werde. Zum einen fehle es an finanziellen Mitteln – de Zoysa nimmt hier besonders die Länder des Globalen Nordens in die Verantwortung, die die Länder des Globalen Südens nicht ausreichend finanziell unterstützten –, zum anderen fehle es an Accountability: Ein Monitoring und Berichtswesen über die Umsetzung der SDGs werde, wenn überhaupt, nur unzureichend durchgeführt.

Uchita de Zoysa vertrat Sri Lanka zwischen 2016 und 2017 bei den Verhandlungen der SDGs. Er blickt auf über dreißig Jahre als Aktivist für lokal-globale Nachhaltigkeitsprozesse zurück und gründete unter anderem das SDG Transformation Lab. In den Diskurs um die SDGs brachte er vor allem seine kritisch-postkoloniale Perspektive ein. Auch mit Blick auf die Zukunft nach den SDGs mahnte er an, dass globale Verknüpfungen und Machtstrukturen bei der Gestaltung von Nachhaltigkeitszielen stärker in den Blick genommen werden müssten.

In einem Workshop von Lilith Boettcher, Futures Probes, konnten sich die Teilnehmenden anschließend selbst mit potentiellen Zukunftsentwicklungen befassen. Dabei lernten sie Methoden aus der Zukunftsforschung kennen, die sie auch in eigenen Bildungsangeboten anwenden können. Anhand von einer 2×2-Matrix entwickelten sie mit relevanten Einflussfaktoren verschiedene Zukunftsszenarien und diskutierten, welche Konsequenzen sich daraus jeweils u.a. auch für Bildung ergeben könnten.

2) Kann die Transformation in unserem Bildungssystem überhaupt gelingen? Wie muss sich das Bildungssystem verändern?

Nilda Inkermann, Universität Kassel, gab in einem Input Einblick in die Erkenntnisse ihrer Doktorarbeit. Sie untersucht Transformationsverständnisse von außerschulischen Bildungsakteur_innen des Globalen Lernens. Dabei stellt sie insbesondere den Zusammenhang zu Fragen von Macht- und Herrschaftsverhältnissen und deren Reproduktion in Bildungs- und Wissenssystem her.

Inkermann macht sichtbar, wie Machtstrukturen im Bildungssystem dafür sorgen können, dass der nicht-nachhaltige und von Bildungsungerechtigkeiten geprägte Status quo – trotz transformativem Anspruch – reproduziert wird. Nicht-nachhaltige Alltagspraktiken und Gesellschafts- und Wirtschaftsstrukturen manifestieren sich. In Bildungskontexten sollte Transformation also nicht nur als Lerninhalt verstanden werden. Vielmehr muss Bildung selbst als eingebunden in Transformationsprozesse betrachtet werden. Um Macht- und Herrschaftsstrukturen in und durch Bildungssysteme zu hinterfragen und zu überwinden, muss die Rolle von Bildung im Allgemeinen und Globalem Lernen speziell in Transformationsprozessen kritisch hinterfragen werden.

3) Wie muss Bildung aussehen, um transformativ zu wirken? Welche Ansätze gibt es für die Bildungspraxis?

In dem Workshop “Die Welt auf den Kopf stellen – Kompetenzen und Strategien für radikale Transformation” stellte Nilda Inkermann vor, wie die Arbeit von sozialen Bewegungen und gesellschaftspolitischem Aktivismus transformativ in einem radikalen, systemverändernden Sinne wirken kann. Inkermann ist Mitglied des I.L.A.-Kollektivs, in dem Wissenschaftler_innen und Aktivist_innen zusammenarbeiten, um Probleme der imperialen Lebens- und Produktionsweise aufzuzeigen und solidarische Alternativen zu entwickeln. In ihrem 2022 veröffentlichten Buch stellen sie Strategien für transformativen Aktivismus vor. Inkermann gab einen Einblick in diese Strategien und diskutierte mit den Teilnehmenden die Zusammenhänge zwischen Bildungsarbeit und Aktivismus.

Wie Bildung gestaltet sein muss, um transformativ zu wirken, wurde zuletzt in einem Workshop zu den VENRO-Qualitätskriterien für entwicklungspolitische Bildungsarbeit diskutiert. Die Qualitätskriterien geben Orientierung für eine qualitativ hochwertige Bildungsarbeit und bieten zahlreiche Ansatzpunkte für Bildungspraktiker_innen, die transformatives Lernen in ihrer Praxis umsetzen möchten. So geben die Kriterien beispielsweise Impulse zum Hinterfragen der Machtverhältnisse zwischen Lernenden und Lehrenden; zeigen auf, wie wichtig Räume zum Ausprobieren für die Handlungsdimension in Bildungsangeboten sind und empfehlen Bildungspraktiker_innen, sich mit dem politischen Kontext ihrer Angebote kritisch auseinanderzusetzen.

Was nehmen wir mit?

Der Fachtag zeigt, dass Bildung einen wichtigen Beitrag zur sozial-ökologischen und ökonomischen Transformation leisten kann. Dies ist allerdings kein Selbstläufer. Um diese Rolle in der Transformation zu leisten, müssen Bildungsakteur_innen ihre eigene Rolle kritisch hinterfragen und mit ihrer Bildungsarbeit auch zur Transformation des Bildungssystems selbst beitragen. VENRO wird sich auch in Zukunft mit dem transformativen Lernen beschäftigen. Die Erkenntnisse des Fachtags werden im Rahmen einer Publikation aufgegriffen und vertieft, die im Frühjahr 2024 erscheint.