Politik

„Auch etablierte Demokratien sind nicht immun gegen die Erosion zivilgesellschaftlicher Handlungsräume“

In den letzten Jahren ist weltweit der Trend zu beobachten, dass zivilgesellschaftliche Handlungsräume schrumpfen und grundlege Freiheitsrechte – wie das Recht auf freie Meinungsäußerung und Protest – zunehmend eingeschränkt werden. Tara Petrović, Analystin des CIVICUS-Monitor für Europa und Zentralasien, erläutert im Interview, wie zivilgesellschaftliche Kräfte auch in etablierten Demokratien zunehmend unter Druck geraten.

Tara Petrović, was sind aktuell die größten Herausforderungen für die Zivilgesellschaft in Europa und Deutschland?

Unser aktueller CIVICUS-Monitor zeigt, dass sich Europa auf einem besorgniserregenden Weg befindet. Im Jahr 2019 lebten fast 20 Prozent der Bevölkerung Europas und Zentralasiens in Ländern mit uneingeschränkten zivilgesellschaftlichen Freiheiten, eine Zahl, die sich innerhalb von fünf Jahren auf etwa zehn Prozent halbiert hat. In dieser Zeit sind vier EU-Länder Belgien, Zypern, Deutschland und Slowenien von „offen“ auf „eingeschränkt“ herabgestuft worden. Dies zeigt, dass auch etablierte Demokratien nicht immun sind gegen die Erosion der zivilgesellschaftlichen Handlungsräume, die wir weltweit beobachten. Diesen Trend umzukehren und hart erkämpfte Grundfreiheiten vor weiteren Einschränkungen in einem zunehmend komplexen geopolitischen Umfeld zu schützen, ist die wichtigste Herausforderung für die europäische Zivilgesellschaft.

Können Sie Beispiele aus jüngster Zeit nennen, in denen europäische Regierungen Beschränkungen gegen zivilgesellschaftliche Organisationen oder Aktivist_innen verhängt haben?

Einer der wichtigsten Trends, den wir in letzter Zeit in ganz Europa verzeichnen, ist das immer härtere Vorgehen gegen die Klimabewegung. Im Jahr 2023 wurden in mindestens acht europäischen Ländern, darunter auch Deutschland, Klimaschützer_innen wegen gewaltfreier Aktionen festgenommen. Mehr und mehr sehen wir, dass die Behörden Umweltaktivist_innen mit schwerwiegenden strafrechtlichen Anschuldigungen wie Terrorismus oder Aufwiegelung der Öffentlichkeit ins Visier nehmen und sie die nationale Sicherheit und Terrorismusbekämpfung als Vorwand nutzen, um diese Gruppen zu überwachen und ihre Handlungsräume einzuschränken. Dies ist aber nicht auf die Klimabewegung beschränkt in mehreren EU-Ländern wurden Flüchtlingshelfer_innen mit ähnlichen Bestimmungen ins Visier genommen, und in jüngster Zeit auch Gruppen, die sich mit Palästina solidarisch zeigen. Darüber hinaus beobachten wir, dass zivilgesellschaftliche Akteur_innen von Unternehmen und mächtigen Einzelpersonen angegriffen werden, insbesondere durch so genannte SLAPPs – Strategische Klagen gegen öffentliche Beteiligung. So wurden beispielsweise Greenpeace und 13 weitere Nichtregierungsorganisationen von einem der größten Milchviehhalter Spaniens wegen Verleumdung angezeigt, nachdem sie dessen Umweltpraktiken in einem Bericht an das Parlament angeprangert hatten.

Die CIVICUS-Übersicht zeigt die fünf gravierendsten Einschränkungen zivilgesellschaftlicher Handlungsräume in Europa und Zentralasien.

Wie reagieren die zivilgesellschaftlichen Kräfte auf dieses sich wandelnde politische Klima?  

Auch wenn das Bild, das der CIVICUS-Monitor zeichnet, manchmal düster ist, sehen wir immer wieder wichtige zivilgesellschaftliche Erfolge, sowohl in „offenen” Ländern als auch in den repressivsten Staaten. Trotz des insgesamt negativen Trends gelingt es zivilgesellschaftlichen Akteur_innen in aller Welt, den zivilgesellschaftlichen Raum durch Graswurzel-Bewegungen, Kampagnen und Proteste zurückzuerobern – unser Bericht enthält Beispiele aus Moldau, Albanien, Tadschikistan und anderen Ländern. Eine wichtige Erkenntnis aus diesen Erfolgen ist die Bedeutung von Geschlossenheit und kollektivem Handeln. In Georgien wurde ein geplantes Gesetz zu „ausländischen Agenten“, das auf NRO abzielt, die aus dem Ausland finanziert werden, nach massiven Protesten zurückgezogen. Der Entwurf für eine EU-Richtlinie über „ausländische Einmischung“, der ähnliche Regelungen vorsieht, wurde nach einem gemeinsamen Schreiben von über 200 europäischen zivilgesellschaftlichen Organisationen an die Kommission vorerst verschoben.

Wie geht CIVICUS mit der zunehmenden digitalen Überwachung und Online-Zensur von zivilgesellschaftlichen Kräften um?

Unserer Analyse zufolge gehörte die Zensur zu den fünf gravierendsten Einschränkungen zivilgesellschaftlicher Handlungsräume in Europa und Zentralasien, wobei über 50 Fälle in mindestens 26 Ländern verzeichnet wurden. Wir dokumentieren die Verstöße aber nicht nur, sondern arbeiten auch im Rahmen der Digital Democracy Initiative daran, der Zivilgesellschaft die Instrumente an die Hand zu geben, mit denen sie diesen Herausforderungen begegnen kann. Die Initiative zielt darauf ab, die lokale Zivilgesellschaft im globalen Süden in die Lage zu versetzen, digitale Technologien zu nutzen, um ihre demokratischen Bemühungen besser zur vernetzen und durch Wissensaustausch zu stärken. Auch wenn die Initiative nicht in Westeuropa umgesetzt wird, können die entwickelten Instrumente und Strategien der europäischen Zivilgesellschaft als Vorbild dienen. Da sich Unterdrückungstaktiken oft von Land zu Land wiederholen, ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Zivilgesellschaft voneinander – die Erosion der zivilgesellschaftlichen Handlungsräume ist eine globale Krise, die eine einheitliche globale Antwort erfordert.


Der CIVICUS-Monitor bewertet seit 2017 die Bedingungen für zivilgesellschaftlichen Handlungsraum in 198 Ländern und Regionen.