Politik

„Es gibt einen neuen Mut, strukturellen Rassismus anzugehen”

Nana Asantewa Afadzinu, Geschäftsführerin vom West Africa Civil Society Institute (WACSI) in Ghana, setzt sich seit mehr als 20 Jahren für nachhaltige Entwicklung und eine starke Zivilgesellschaft in Afrika ein. Im Interview erklärt sie, warum es ohne Dekolonisierung keine nachhaltige Entwicklung geben kann.

Sie setzen sich kritisch aus afrikanischer Perspekti­ve mit Entwicklungszusammenarbeit auseinander. Sehen Sie Entwicklungszusammenarbeit grund­sätzlich als problematisch an oder muss sich nur die Art und Weise der Zusammenarbeit ändern?

Entwicklungszusammenarbeit ist nicht falsch, sondern sollte im Gegenteil weiter vorangetrieben werden. Allerdings sind für Zusammenarbeit Respekt und Vertrauen nötig – so wie in jeder Beziehung. Wo das nicht vorhanden ist, kann keine wirkliche Kooperation gelingen. Deshalb lautet die Antwort auf Ihre Frage: Es geht um das „Wie“, die Art und Weise der Zusammenarbeit.

Wie wichtig ist denn die Rolle der Entwicklungszu­sammenarbeit überhaupt? Sollte der Schwerpunkt internationaler Zusammenarbeit nicht eher auf Dingen wie fairen Handelsbeziehungen, Zugang zu Märkten, gerechter Besteuerung etc. liegen?

Entwicklungszusammenarbeit ist wichtig. So wie wir einander als Menschen innerhalb unserer Gemeinschaften und Gesellschaften brauchen, brauchen Länder einander in der globalen Gesellschaft. In Akan, einer ghanaischen Sprache, gibt es das Sprichwort „nnifa dware benkum na benkum dware nnifa“ (wörtlich übersetzt: „Die rechte Hand wäscht die linke und die linke die rechte“). Egal, wie groß die rechte Hand ist – sie kann sich nicht selbst waschen. Das Gleiche gilt für die linke. Da­mit beide Hände sauber sind, brauchen sie einander. So ist es auch auf der Erde. Sie gedeiht durch wechselseitige Abhängigkeiten. Sehen Sie sich die Natur an, das Sonnensystem, die Tiere. Wo es kein Geben und Nehmen gibt, keine Abhängigkeiten voneinander, ist Stillstand und Tod. Länder hängen auch vonei­nander ab. Die Herausforderung beginnt dort, wo anstelle gegenseitiger Abhängigkeit einseitige Abhängigkeit und Ausbeutung herrschen. Wo Unterstützung nicht zur Stärkung des anderen führt, sondern in dauerhafte Abhängigkeit und somit Schwächung, und wo die Unterstützung nicht aus gegenseitigem Respekt, Vertrauen und Wertschät­zung erwächst.

Die in Ihrer Frage angesprochenen Dinge sollten alle Teil der Entwicklungszusammenarbeit sein. Diese sollte ein Ziel haben: einander zu stärken und dem oder der jeweils anderen zu ermöglichen zu florieren. Die genannten Aspekte sind sehr wichtig, um Gleichheit und Gerechtigkeit in Handelsbeziehungen zu schaffen. Entwicklungszusammenarbeit kann sich aber nicht nur auf Handel beziehen, sie muss alle Aspekte des menschlichen Austauschs einbeziehen.

Welche Rolle spielt nach Ihrer Erfahrung der Kolonialismus in den Beziehungen zwischen Organisationen aus dem Globalen Norden und Süden?

Der Kolonialismus hat die Struktur der Entwick­lungszusammenarbeit und die Art und Weise, wie sie durchgeführt wird, stark geprägt. Er ist bestimmend dafür, wer die Entscheidungen trifft. Er ist bestimmend dafür, wer als kompetent und als Expert_in gilt. Er ist bestimmend dafür, wessen Ressourcen als wichtig angesehen und wertge­schätzt werden. Er ist bestimmend dafür, wer die Maßstäbe für Erfolg setzt und bewertet, ob diese Ziele erreicht werden. Er ist bestimmend für die Definition von Risiken und dafür, wer als am meis­ten gefährdet gilt.

In der Logik der kolonialen Ordnung müssen Afrika und Akteur_innen im Globalen Süden bemitleidet und gerettet werden und gelten nicht als kompetent und vertrauenswürdig. Die Ressourcen der Kolonisierten werden überwiegend ausgebeutet, ohne ihren Wert anzuerkennen oder – wo das doch geschieht – ihn den lokalen Akteur_in­nen zuzuschreiben.

Ich würde gerne sagen, dass sich das geändert hat. Das hat es aber nicht. Es hat einen zivilen Anstrich erhalten, ist aber im Grunde gleich geblieben. Ich möchte an dieser Stelle auf die Publikation „Time to Decolonise Aid“ von Peace Direct (2021) und auf das Diagramm zu strukturellem Rassismus darin hinweisen. Es ist eins der besten, das ich dazu bisher gesehen habe, und zeigt klar, wie sich struktureller Rassismus im Entwicklungssektor auswirkt. Eine Hauptursache dafür sind Kolonia­lismus und Neokolonialismus. Kolonialismus ist nicht vorbei. Vielleicht dem Namen nach, aber nicht in der Praxis. Das System der Entwicklungs­zusammenarbeit setzt ähnliche Werte fort.

Beruhen alle Ungerechtigkeiten und Ungleich­heiten auf der kolonialen Vergangenheit – oder werden auch neue Abhängigkeiten geschaffen, aktuell etwa durch Patente für Impfstoffe gegen Covid-19, die Industrieländer nicht freigeben?

Nicht alle Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten rühren aus der kolonialen Vergangenheit her. Aber wir können uns der Tatsache nicht verschließen, dass die Einstellungen und Werte, die aus dieser Zeit stammen, den Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit vorgegeben haben und nach wie vor die gelebte Praxis bestimmen. Das Beispiel der Patente in der Covid-19-Pandemie mag neu erscheinen, weil es sich um eine Reaktion auf eine aktuelle Entwicklung handelt. Aber diese Reaktion entspricht in hohem Maße dem Vorgehen der Vergangenheit. Nur das Szenario ist neu.

Wie muss sich das System der internationalen Zusammenarbeit Ihrer Meinung nach ändern, und was können einzelne NRO tun?

Wenn wir es ernst meinen mit nachhaltiger Ent­wicklung, braucht es zunächst das Eingeständnis, dass das System mangelhaft ist und verbessert werden muss. Was getan werden kann:

  • Selbstprüfung und Selbstreflexion (prüfe auf Rassismus, patriarchale Machtverhältnisse, „Othering“, erkenne Privilegien und nutze sie für Veränderung).
  • Stoße einen Systemwandel an, um die Schwächen zu beheben – bezogen auf Maßstäbe, Rahmensetzungen, Steuerung, Verwaltung, Kultur.
  • Lasse dich von Werten leiten – weniger trans­aktional, mehr transformativ.
  • Beteilige Partner_innen: Regierungen, den Privatsektor, die Zivilgesellschaft, vor allem auf der lokalen Ebene, wo man positive Verände­rungen ermöglichen will.
  • Sei lernbereit.
  • Baue Vertrauen auf, respektiere andere.
  • Unterstütze Co-Creation.
  • Praktiziere Ubuntu: „Ich bin, weil du bist.“
  • Wertschätze, was der Globale Süden mitbringt. Geld ist wichtig, aber andere Ressourcen, die Partner_innen einbringen, sind es ebenfalls.
  • Lokalisierung bedeutet nicht, lediglich ein Projekt, ein Programm oder eine Organisation mit einem geografischen Stempel zu versehen, sondern es geht um das Ethos einer Organisation und darum, dass ihre Interventionen von lokalen Akteur_innen ausgehen und auf sie zugeschnitten sind.
  • Führungspersönlichkeiten und andere Akteur_innen aus dem Globalen Süden (wobei ich hauptsächlich für Afrika spreche) sollten stärker wertschätzen, was wir haben, und mehr dafür tun, das zu erweitern und zu schützen. Wir müssen solidarischer zusammenarbeiten und den Umgang mit unseren eigenen Res­sourcen verbessern.

Wenn wir nicht auf diese Dinge hinarbeiten, wer­den wir niemals die nachhaltige Entwicklung er­reichen, die wir anstreben. Es braucht alle von uns in gemeinsamer Anstrengung, in Partnerschaft, mit Vertrauen und Respekt, in Gleichheit und Anerkennung der anderen und der Ressourcen, die jede_r mitbringt. Mitleid ist nicht falsch, aber lasst uns mehr Empathie haben und den Willen, den_die andere_n wirklich stark zu machen.

Jede_r möchte, dass Entwicklung von den Menschen ausgeht, die sie betrifft. Warum ist es so schwer, das zu erreichen?

Weil die besten Absichten nicht zum Ziel führen, wenn sie nicht mit entsprechendem Handeln unterlegt sind, einschließlich der nötigen menschlichen, materiellen und finanziellen Ressourcen. Manche Absichten benötigen politischen Willen, und wenn Entscheidungsträger_innen zwar lauter richtige Dinge sagen, aber in der Praxis nichts unternehmen, was ihre Privilegien und ihre Bequemlichkeiten einschränken könnte, werden die guten Absichten nicht umgesetzt.

Auch WACSI arbeitet mit Partner_innen aus dem Globalen Norden zusammen. Wie sind Ihre Erfahrungen bezogen auf koloniale Kontinuitäten?

WACSI hat Erfahrungen mit diversen Partner_in­nen aus dem Globalen Norden. Zu einem sehr großen Teil hatten wir gute Beziehungen und nur wenige nicht so gute. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir alle in einem mangelhaf­ten System arbeiten. Von daher hat WACSI mit den gleichen Herausforderungen zu kämpfen wie andere Organisationen im Globalen Süden.

Wir hatten sehr respektvolle Beziehungen, in de­nen sich die Partner_innen – trotz der im System angelegten Ungleichheit – um gleiche Augenhöhe bemüht und die Werte, die WACSI in die Partnerschaft eingebracht hat, sowie unsere Integrität und Fähigkeiten anerkannt haben. Es gab aber auch andere, die eine herablassende Haltung gezeigt und ihre Maßstäbe für Evaluierung und Benchmarking angelegt haben, ohne WACSI einzubeziehen und den Kontext zu berücksichtigen. Manche haben sich ausbeuterisch verhalten oder sogar Versuche von Mikromanagement gestartet. Manche haben den Beitrag von WACSI nicht anerkannt. Das sind einige der negativen Erfahrungen, aber das ist für viele Organisationen aus dem Globalen Süden nichts Außergewöhnliches. Das zeigen Studien wie „Voices from the South“ (2021), die WACSI im Rahmen des RINGO-Projekts durchgeführt hat und für die mehr als 600 Organisationen befragt wurden, die im Globalen Süden arbeiten.

Eins der Haupthindernisse für echte Partner­schaftlichkeit wird in der Tatsache gesehen, dass Geld aus dem Globalen Norden in den Globalen Süden fließt. Wie kann dieses ­Hindernis überwunden werden?

Es wird dann überwunden werden, wenn Geld nicht mehr als einzige wertvolle Ressource an­gesehen wird. Es wird auch dann überkommen, wenn Geld aus allen Richtungen in alle Richtungen fließt – aus dem Globalen Norden in den Globalen Süden, aus dem Globalen Süden in den Globalen Norden, von Süd nach Süd und von Nord nach Nord. Das ist einer der Gründe dafür, dass es unabdingbar ist, in philanthropische Kultur und Infrastruktur im Globalen Süden zu investieren und sie zu stärken.

Wie sehen Sie die Zukunft der Entwicklungs­zusammenarbeit und die mögliche Rolle von NRO im Globalen Norden darin?

Ich bin froh, dass der Fokus seit einiger Zeit auf der Notwendigkeit liegt, die derzeitige Struktur des Entwicklungssystems zum Besseren zu verändern, Macht zu verschieben und dafür zu sorgen, dass Macht und Ressourcen innerhalb des Systems ge­rechter verteilt werden. Es gibt einen neuen Mut, strukturellen Rassismus anzugehen, und es ist herzerwärmend, all die Anstrengungen zu sehen, die unternommen werden, um zuerst das Problem zu diagnostizieren, dann die Lösung dafür zu fin­den und sie schließlich auch umzusetzen.

Bewegungen wie „Shift the Power“, Projekte wie „Reimagining the INGO (RINGO)“, die Arbeit von Netzwerken wie ICSC, Partos, Bond und anderen sowie der Weg zu strategischer Veränderung, den Organisationen wie Oxfam eingeschlagen haben, sind beachtenswert. Wegweisende Forschung wie die von Peace Direct und Adeso machen Mut. Für mich zeigen sie ein gewisses Licht am Ende des Tunnels, der lange Zeit sehr lang und ziemlich dunkel schien. Wir sind dem Ende dieses Tunnels jetzt hoffentlich viel, viel näher.

Das Interview ist erschienen im Report „Shifting Power – Wie entwicklungspolitische und humanitäre Nichtregierungsorganisationen den Folgen von Kolonialismus in ihrer Arbeit begegnen können“.