Politik

“Ein radikales Umsteuern hin zu echter globaler Nachhaltigkeit ist notwendig“

Auf dem Hochrangigen Politischen Forum berichten UN-Mitgliedsstaaten regelmäßig über ihren Beitrag zur Erreichung der Nachhaltigkeitsziele – in diesem Jahr ist auch Deutschland wieder an der Reihe. Im Interview kritisiert die stellvertretende VENRO-Vorsitzende Dr. Luise Steinwachs die grundsätzliche Ausrichtung des deutschen Berichts und erklärt, wie die Bundesregierung die Umsetzung der Agenda 2030 beschleunigen kann.

Am 5. Juli beginnt das Hochrangige Politische Forum für nachhaltige Entwicklung (HLPF) der Vereinten Nationen (UN). Seit 2016 wird hier jährlich über die Umsetzung der Agenda 2030 berichtet. Aufgrund der Corona-Pandemie findet es das zweite Mal in Folge in virtueller Form statt. Frau Dr. Steinwachs, Sie nehmen am HLPF teil – was ist vom diesjährigen Treffen zu erwarten?

„In diesem Jahr geht es um den nachhaltigen Wiederaufbau nach der Corona-Pandemie. Das ist politisch höchst relevant. Schon vor Corona war die Welt nicht auf dem richtigen Weg, die in der Agenda 2030 formulierten Ziele für Nachhaltige Entwicklung bis 2030 erreichen zu können. Ungleichheit, Armut und Hunger nehmen nach wie vor zu. Die Corona-Pandemie hat diesen Trend weiter verschärft. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind allein im Jahr 2020 zusätzlich bis zu 124 Millionen Menschen in extreme Armut abgedrängt worden. Auch die Zahl der Menschen, die an chronischem Hunger leiden, ist gestiegen. Die Vereinten Nationen schätzen, dass allein im Jahr 2020 83 bis 132 Millionen mehr Menschen davon betroffen waren als im Vorjahr. Die Ungleichheit in und zwischen Staaten nimmt zu. Das ist ein Skandal. Die Politik muss endlich verstehen, dass ein “Weiter so” keine Option ist, sondern dass ein radikales Umsteuern notwendig ist hin zu echter globaler Nachhaltigkeit, statt fortwährend dem Wachstum hinterherzulaufen.“

Deutschland berichtet im Rahmen des HLPF zum zweiten Mal über den Umsetzungsstand der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung in, durch und mit Deutschland. Den schriftlichen Bericht hat die UN bereits veröffentlicht. Kann Deutschland heute über mehr Fortschritte berichten, als beim ersten Staatenbericht vor fünf Jahren?

„Der erste Bericht wurde 2016 präsentiert, da ging es noch darum, die 2015 verabschiedete Agenda 2030 überhaupt als Politikinstrument zu etablieren. In den letzten Jahren hat die Bundesregierung durchaus Schritte unternommen, um für das Thema Nachhaltigkeit zu sensibilisieren und grundlegende Prinzipien der Nachhaltigkeit in den verschiedenen Politikbereichen zu verankern. Leider reicht das bei weitem nicht aus. Darauf weist auch die Bundesregierung in ihrem Bericht hin.

Positiv ist, dass die Bundesregierung endlich damit beginnt, die sogenannten Spill-Over-Effekte zu analysieren. Das sind die (negativen) externen Effekte von Industrieländern wie Deutschland auf andere Länder insbesondere im Globalen Süden. Das europäische Wohlstandmodell basiert global betrachtet noch immer auf massiver Ausbeutung von Mensch und Natur. Das wird in zahlreichen Studien wiederholt bestätigt. Um weltweit soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit zu erreichen, muss diese Ausbeutung beendet werden.“

Welche Aspekte fehlen Ihnen in dem Bericht?

„Es geht nicht nur um einzelne Aspekte, sondern um die grundsätzliche Ausrichtung des Berichts. Er sollte den Beitrag Deutschlands zur Erreichung der Nachhaltigkeitsziele darstellen, und zwar nicht nur mit dem Fokus auf Deutschland, sondern darüber hinaus. Natürlich ist es erst einmal ein großer Fortschritt, dass Deutschland überhaupt über die Veränderungen im eigenen Land berichtet. Das war bei den Millenniumentwicklungszielen anders. Diese Neuerung sollte aber nicht den Blick auf die globale Ebene verstellen. Deutlich mehr internationale Indikatoren sind notwendig. Zum Beispiel berichtet Deutschland nicht systematisch dazu, wie es einen Beitrag zur Reduzierung von weltweiter Armut leistet, weil es dazu keinen Indikator gibt. Es werden nur exemplarisch Beispiele von Maßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit aufgeführt. Das reicht nicht.

Auch gibt die Bundesregierung in ihrem Bericht an, dass die Agenda 2030 Leitprinzip deutscher Politik ist. Dem muss ich leider widersprechen, denn der Rahmen für die Umsetzung der Agenda 2030 ist bei uns die viel zu schwache Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie. Sie hat in der Praxis kaum politische Relevanz und entfaltet nicht die nötige strukturverändernde Wirkung. Eine tatsächlich wirkungsvolle übergeordnete Strategie müsste mit ihren Prinzipien und Zielen kohärent und verbindlich in allen Politikbereichen implementiert werden.“

Wurde die Zivilgesellschaft ausreichend in den Prozess der Berichterstattung eingebunden?

„Die Bundesregierung hat mehrmals zu Dialogveranstaltungen eingeladen. Wir konnten eine Entwurfsfassung des Staatenberichts auch schriftlich kommentieren. Einzelne Aspekte wurden dann auch aufgegriffen. Besonders gefreut hat mich, dass die Bundesregierung in der finalen Version nun doch explizit auf das Prinzip der Agenda 2030, Leave No One Behind, eingeht.

Im Anhang des Staatenberichts konnten wir als Dachverband zudem einen eigenen kurzen Text veröffentlichen, in dem wir unsere Perspektive auf den Stand der Umsetzung darstellen. Und bei der offiziellen Präsentation des Berichts am 15. Juli können wir eine Stellungnahme einbringen, die wir gemeinsam mit dem Forum Umwelt und Entwicklung, dem DGB und den Jugenddelegierten erarbeitet haben.

Also: Ja, die Zivilgesellschaft ist einbezogen worden und hat auch eine gewisse Sichtbarkeit im Prozess. Für das nächste Mal wünsche ich mir aber, dass wir deutlich früher beteiligt werden. Es ist ja nicht nur ein freundliches Entgegenkommen der Bundesregierung, wenn sie die Zivilgesellschaft einbindet, sondern dafür gibt es vom Ministerrat des Europarates verabschiedete Leitlinien, die darauf abzielen, dass nicht-staatliche Akteure tatsächlich in politischen Prozessen substanziell beitragen können und dafür auch ausreichend Zeit eingeräumt wird. Auch muss es in dem jeweiligen Prozess – wie hier der Erstellung des Berichts – einen echten Überarbeitungsspielraum geben, damit die Eingaben überhaupt berücksichtigt werden können. Hier hätte ich mir einen offeneren Prozess gewünscht, sowohl was den zeitlichen Rahmen angeht als auch bezogen auf die Inhalte.“

Was muss die nächste Bundesregierung unbedingt in Angriff nehmen, um die Umsetzung der Agenda 2030 zu beschleunigen?

„Letztendlich ist Agenda 2030 ein Versuch, die gemeinsame Verantwortung der Staatengemeinschaft für den Zustand und die Zukunft dieser Welt zu formulieren und Wege aufzuzeigen, wie diese Zukunft global nachhaltig und gerecht gestaltet werden kann. Diese Vision sollte die nächste Bundesregierung ernst nehmen und der Umsetzung der Agenda 2030 sehr viel höhere Verbindlichkeit einräumen.“

In einem Satz: Was ist Ihnen #weltweitwichtig?

Lokal handeln, global denken, also anders herum, als es üblicherweise gesagt wird. Mir ist wichtig, dass wir nicht nur globale Ziele in lokales Handeln übersetzen, sondern auch, dass wir lokales Handeln grundsätzlich auf seine globalen Auswirkungen hin überprüfen und anpassen. Das ist für mich der Kern der Agenda 2030.“


Dr. Luise Steinwachs ist stellvertretende VENRO-Vorsitzende und Leiterin des Referats Welternährung und soziale Rechte bei unserer Mitgliedsorganisation Brot für die Welt.